Endstation Nippes
Misstrauen.
»Wenn du Kung-Fu beherrschst, dann kann dir keiner was. Dann kannste jeden einfach wegpusten.«
»Wie, wegpusten?«
»Das muss Mary dir erklären. Ich guck nur manchmal zu, wenn sie trainiert, und sie hat mir ein paar Tricks beigebracht, wie ich mich zum Beispiel wehren kann, wenn mich einer vergewaltigen will. Aber im Grunde weiß ich nicht viel drüber. Dafür weiß sie alles.«
»In echt?«
»Ja. Sie hat bei irgendwelchen ganz berühmten Meistern in Hongkong und Taiwan gelernt.«
»Is die dann so was wie der Shaolin-Mönch vom Fernsehen?«
Ich hatte keine Ahnung, wer das sein sollte, nickte aber, da Chantals Augen jetzt vor Begeisterung glänzten.
»Boah, cool.«
In genau diesem Moment läutete es. Ich stellte Mary und Chantal einander vor, und Chantal wollte wissen, ob Mary »in echt« so eine war wie »der Shaolin-Mönch vom Fernsehen«. Mary beantwortete die Frage ganz ernsthaft mit »Ja«.
»Zeig mal!«, forderte Chantal sie auf.
»Hier«, Mary hielt Chantal ihre Unterarme hin, »leg deine Hände da drauf. Und jetzt versuch, mich wegzudrücken.«
Chantal lachte auf. Sie hatte sich im Heim nicht nur mit den Mädchen geprügelt. Also griff sie lässig nach Marys Armen und drückte dagegen. Mary lächelte freundlich. Chantal drückte fester. Schüttelte irritiert den Kopf, beugte sich vor, stemmte sich mit beiden Beinen in den Boden und drückte mit aller Kraft. Mary rührte sich nicht. Dafür machte Chantal plötzlich einen Satz nach hinten, stolperte und ging zu Boden. Sie starrte Mary halb bewundernd, halb wütend an, rappelte sich hoch und versuchte es erneut. Drückte atemlos gegen Marys Unterarme. Mit dem gleichen Ergebnis wie vorhin.
Dieses Mal blieb sie liegen, grinste verlegen und fragte: »Wie hast’n das gemacht?«
»Komm her!« Mary ging wieder in die Ausgangsstellung. »Versuch es noch einmal.«
Chantal sammelte all ihre Kraft. Konzentrierte sich auf Marys Arme. Beugte sich leicht vor und streckte die Arme aus. Zog sie plötzlich zurück, torkelte, versuchte das Gleichgewicht zu halten, griff ins Leere, so als habe Mary sich in Luft aufgelöst, und fiel schließlich in sich zusammen. Mary half ihr hoch.
»Das ist Qi, die Energie«, erklärte sie knapp, stellte sich aufrecht vor Chantal hin, umschloss die Faust ihrer rechten Hand mit der linken und streckte ihr die so zusammengelegten Hände leicht entgegen. Chantal machte die Geste ehrfürchtig nach.
»Und ich kann das echt bei dir lernen?«
»Ja«, sagte Mary, kramte in ihrer Umhängetasche, zog eine DVD heraus und reichte sie Chantal. »Das ist ›Tiger and Dragon‹, ein wunderschöner Film, in dem es um eine Kung-Fu-Kämpferin geht, die niemand besiegen kann.«
»Danke!« Chantal drückte die DVD an sich und setzte sich wieder an den Tisch. Zappelte herum und fragte endlich, ob sie den Film jetzt gleich gucken könnte. Ich stellte den Fernseher in meinem Arbeitszimmer an, schob die Disc in den Recorder und drückte der künftigen Kung-Fu-Heldin Chan-Tal die Fernbedienung in die Hand. Dann konnten Mary und ich endlich in Ruhe frühstücken.
»Da hast du ja eine beeindruckende Show abgezogen«, bemerkte ich anerkennend.
» Well , ich dachte, ich sollte vielleicht sein wie ›der Shaolin-Mönch vom Fernsehen‹. Dabei war das eben eher Tai-Chi-Ch’uan, also nicht die harte, sondern die weiche, innere Kampfkunst.« Sie sah mich nachdenklich an und meinte dann: »Ich glaube, für Chantal wäre das gut.«
Ich verstand nur Bahnhof.
»Darf ich?« Ohne meine Antwort abzuwarten, vergriff sich Mary am dritten Croissant. Die Frau ist über vierzig und kann so viele fetttriefende Schweinereien essen, wie sie will. Sie nimmt kein Gramm zu. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, hielt sie mir den Brotkorb hin. Ich nahm mir ein Roggenbrötchen und klatschte eine Extraportion Aprikosenmarmelade drauf. Als Ausgleich.
»Sie ist ein gutes Mädchen«, nuschelte Mary, den Mund voller Croissant, Butter und Marmelade. »Sie hat Mut. Und Energie.«
»Das kannst du laut sagen.«
Aus meinem Arbeitszimmer erklangen Kampfgeräusche, untermalt von Filmmusik.
»Chantal kann jederzeit kommen. Ich nehme sie in den Mädchenkurs auf«, erklärte Mary.
Sie schluckte den Bissen herunter und ließ ihren Blick gierig über den Tisch schweifen. Langte schließlich nach dem Ziegengouda, säbelte ein dickes Stück davon ab und schob es sich in den Mund. Rosa sprang auf den Tisch und schnupperte interessiert an den diversen Köstlichkeiten. Ich
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