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Endstation Nippes

Titel: Endstation Nippes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Strobl
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ich inzwischen schon mal ins Leichenschauhaus kommen könnte. Ich sagte ihr, dass ich Chantal nicht allein lassen wollte.
    »Aber es ist wichtig, Katja. Sehr wichtig.« Sie klang aufgeregt und fast panisch.
    »Was ist los, Tina?«
    »Kann ich dir jetzt nicht erklären. Kommst du?«
    »Ich kann jetzt nicht, Tina!«
    »Ich bleibe bei ihr«, schlug Mary vor.
    »Wo musst du hin?« Chantal stand in der Tür. Stocksteif, die Augen zugequollen, die Hände ineinandergekrallt.
    Ich war zu Chantal immer ehrlich gewesen und beschloss, es auch zu bleiben. »Ins Leichenschauhaus. Marco identifizieren.«
    »Ich komme mit.«
    Mir wurde schlecht bei der Vorstellung. Aber einem Mädchen wie Chantal sagt man nicht »Das ist nichts für dich« oder »Dafür bist du zu jung«.
    Sie streckte die Hand nach meinem Handy aus. Ich gab es ihr.
    »Ich komme mit«, sagte sie in den Hörer.
    Sie hörte eine Zeit lang schweigend zu und schüttelte dabei den Kopf. »Du kannst mir das nicht verbieten.«
    Tinas Stimme drang nun lauter aus dem Hörer. Chantal fiel ihr ins Wort und erklärte in einem Ton, der jeden Widerspruch ausschloss: »Ich bin seine Schwester. Ja? Außer mir kann den keiner identifizieren. Ja? Ich komme mit.« Dann reichte sie mir das Handy.
    Ich unterbrach Tinas Redeschwall und fragte sie, wohin wir kommen sollten.
    Sie sah schließlich ein, dass sie Chantal nicht aufhalten konnte, und erklärte es mir. Sie würde vor dem Eingang auf uns warten.
    Ich hängte ein und wählte sofort Hottes Nummer. Er sollte es zuerst von mir erfahren.
    Ich hing endlos in der Leitung. Als Hotte endlich dranging, fing er sofort an, von Nele zu erzählen.
    »Hotte«, ging ich dazwischen, »hör mal zu!« Erzählte ihm, was passiert war. Er brachte kaum ein Wort heraus. Schließlich bat er: »Gib mir mal die Kleine.«
    Ich reichte Chantal das Telefon. Sie hörte ihm lange zu. Murmelte ab und zu: »Mhm.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wischte sie ungehalten mit dem Ärmel weg und zog die Nase hoch. Dann gab sie mir das Handy zurück.
    Hotte meinte, er könnte in einer halben Stunde im Leichenschauhaus sein.
    »Ras nicht!«, ermahnte ich ihn, »du darfst jetzt keinen Unfall bauen.«
    Tina Gruber hatte mir eingehämmert, wir sollten uns beeilen, aber ich beschloss, zu Fuß zum Gürtel zu laufen. Ich brauchte Bewegung. Die 13 fuhr zum Glück ein, als wir gerade auf dem Bahnsteig ankamen. Während der Fahrt redete Chantal kein Wort, und ich traute mich nicht, sie anzusprechen. Ihr Gesicht wirkte eingefallen, erstarrt, aber in ihren Augen loderte etwas, das ich nicht identifizieren konnte. Wut? Verzweiflung? Glaubte sie immer noch, es sei ihre Schuld, dass Marco weggelaufen war? Und wenn ja, wie konnte ich ihr beibringen, dass das nicht stimmte? Ich langte nach ihrer Hand. Berührte sie kurz und sagte: »Chantal, du bist es nicht schuld. Er wäre auf jeden Fall weggelaufen.«
    Sie wandte den Kopf ab, starrte aus dem Fenster. Ihre Schultern zuckten. Ich wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht. Sie schlug meine Hand weg. Die Frau, die uns gegenübersaß, sah mich fragend an. Ich schüttelte den Kopf. Dachte: Misch dich bloß nicht ein!
    Mir wurde plötzlich bewusst, dass meine Sorge um Chantal die Trauer um Marco völlig verdrängte. Ich schloss die Augen und betete stumm zu Tara, sie möge dem Jungen im Bardo beistehen, ihn beschützen, ihm zu einer guten Wiedergeburt verhelfen. Sah Marco vor mir, wie er mir im Park erzählt hatte, dass sie beim Hotte-Opa schliefen. Wie er auf einmal gestrahlt hatte und die Angst für einen Moment aus seinem Blick gewichen war. Der Schmerz kam so heftig, dass er mir die Luft nahm. Ich schlug die Hand vor den Mund und spürte, wie mir die Tränen aus den Augen schossen.
    »Nächster Halt: Oskar-Jäger-Straße«, verkündete der Lautsprecher. Ich schrak hoch und krächzte: »Wir müssen raus.« Chantal stand auf und nahm meine Hand. Zog mich hoch. Dann ließ sie meine Hand wieder los.
    Tina Gruber hatte uns aussteigen sehen und winkte uns zu. Wir überquerten die Straße und standen vor dem Gebäude, einem hellen Neubau, der überhaupt nicht nach Leichenhalle aussah. Tina musterte Chantal prüfend und mit Zuneigung. Hielt ihr die Hand hin.
    »Es tut mir so leid.«
    Chantal ignorierte sie. Wies auf das Schild »Institut für Rechtsmedizin«.
    »Müssen wir da lang?«
    »Ja«, antwortete Tina und hielt uns die Tür auf.
    Wir liefen durch irgendwelche Flure und über Treppen, die ich nicht wirklich wahrnahm, bis wir

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