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Endstation Nippes

Titel: Endstation Nippes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Strobl
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vor einer Tür stehen blieben. Tina klopfte an, die Pathologin öffnete uns die Tür zu ihrem Reich. Sie war jung, attraktiv und irritiert.
    »Wartest du bitte draußen?«, bat sie Chantal und warf Tina und mir einen bitterbösen Blick zu.
    »Isser das da?«, fragte Chantal und ging auf einen Tisch zu, auf dem ein mit einem Tuch bedeckter kleiner Körper lag.
    »Stopp!«, schrie die Pathologin und rannte Chantal hinterher. Die drehte sich kurz zu ihr um, sagte kühl: »Fick dich«, und zog das Tuch von dem Körper. Die Pathologin erstarrte und schnappte nach Luft. Als sie den Mund wieder aufmachen wollte, gab Tina ihr ein Zeichen, zu schweigen. Aus unerfindlichen Gründen tat sie das dann auch. Vermutlich war sie noch nie einem Mädchen wie Chantal begegnet.
    Chantal hielt sich am Tischrand fest. Rührte sich nicht. Tina ging zu ihr hin, fragte: »Ist es Marco, Chantal?«
    »Hau ab!«
    »Sag mir bloß, ob er es ist. Okay?«
    Chantal wandte sich zu mir um. Grau im Gesicht, die Lippen eingezogen. Sie nickte.
    Ich stellte mich neben sie und schaute auf den Kleinen hinunter. Sein Gesicht und der Körper waren grün und blau, die Mundwinkel tief eingerissen, Schenkel und Unterleib schwarz und blutverkrustet. Ich legte beide Arme um Chantal und wiegte sie, während mir die Tränen über das Gesicht liefen. Tina trat zu uns und schlug sich die Hand vor den Mund. Chantal riss sich plötzlich von mir los, rannte ein paar Schritte Richtung Tür, fiel auf die Knie und erbrach sich.
    »Sie müssen das Kind hier rausbringen!«, zischte die Pathologin.
    Chantal schoss vom Boden hoch und ging direkt wieder in die Knie. Ich half ihr auf, wischte ihr den Mund ab und führte sie zurück zu dem Tisch. Strich Marco über die Wange und sagte leise: »Tschö, Pico. Ciao, Marco, Schatz. Hab’s gut, da, wo du jetzt bist!«
    Chantal sah mich fragend an. Dann streckte sie die Hand aus streichelte Marcos Gesicht. Beugte sich zu ihm hinunter und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Flüsterte: »Tschö, Hörnchen, ich hab dich lieb!«
    Ich legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie aus dem Raum. Wir verliefen uns in den Fluren, aber endlich standen wir wieder auf der Straße. Die 13 fuhr gerade ab. Das hieß mindestens zehn Minuten warten. Ich steckte mir eine Zigarette an und wählte die Nummer der Taxizentrale.
    »Ich fahre euch nach Hause«, sagte Tina, die plötzlich vor uns stand.
    Wir folgten ihr wie zwei Zombies. Ein Auto hielt mit quietschenden Reifen direkt neben uns. Der hat Nerven, dachte ich, da sah ich, es war Hotte. Er sprang aus dem Wagen und drückte Chantal an sich. Hielt sie fest, murmelte etwas in ihr Haar. Sah mich fragend an. Ich nickte. Hotte schossen die Tränen in die Augen.
    »Komm«, sagte Tina und nahm mich leicht am Arm.

VIERZEHN
    Auf meinem Küchentisch lag ein Zettel.
    Muss leider los. Hertha schließt hinter mir ab. Du sollst zu ihr kommen, wenn du nicht allein sein möchtest. Ich bin ab ca. 23.00 Uhr wieder erreichbar (vorher Kurse).
    Take care,
    xxx
    Mary
    Ich dankte ihr stumm. Rief Stefan an und berichtete ihm kurz auf der Mailbox, was passiert war. Sah mich in der Küche um. Was wollte ich? Wollte ich etwas? Ich hatte keinen Hunger. Ich konnte nicht schon wieder eine rauchen. Sollte ich mir Tee machen? Wozu? Ich starrte auf das Regal mit meinen Tees und las die Etiketten. Sencha. Assam. Chai. Schlaftee. Salbeitee. Ging zum Fenster und schaute hinaus. Sah nichts als den Tränenschleier vor meinen Augen. »Tara-la«, fing ich an zu beten. Und wusste endlich, was ich zu tun hatte.
    Ich entzündete drei Teelichte und eines der Weihrauch-Räucherstäbchen, die mir Jeff aus Kathmandu geschickt hatte. Ein Foto von Marco hatte ich nicht, also zeichnete ich auf ein Blatt Papier die Umrisse eines kleinen Jungen, schrieb »Marco« darunter und stellte es auf den Altar. Vollzog ein Vajrasattva-Ritual, das mir eine Dharma-Freundin und -Lehrerin beigebracht hatte, als eine meiner liebsten Freundinnen urplötzlich gestorben war. Und betete schließlich das Tara-Mantra, bis es an der Tür schellte.
    »Und?«, fragte Hertha. Ihre Augen sahen verweint aus. Ich nahm sie in den Arm. Sie ließ es kurz geschehen, dann schüttelte sie mich ab. »Bierchen?«
    »Dafür ist es mir zu früh.«
    »Kaffee?«
    »Ja, gerne.« Ich hatte plötzlich wirklich Lust auf Kaffee. Und auf Süßes. »Ich lauf schnell mal runter und hol uns Kuchen, ja?«
    »Mir Kirschstreusel.«
    Ich erzählte Hertha von dem Besuch in der Rechtsmedizin.

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