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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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Damenstrümpfen fiel vor Väterchen auf die Knie.
    »Mein Vater! Vergib mir meine Sünde! Eine schreckliche Sünde!«
    »Wie hast du denn gesündigt, mein Sohn?«
    »Ich fasse gern große Titten an!«
    Mütterchen lachte lauthals. Die Asiaten sahen ihren Landsmann vorwurfsvoll an. Väterchen segnete den Sünder mit schwungvoller Geste.
    »JASJA!!! WAS TUST DU HIER?!« schrie Nikita ihr direkt ins Ohr. Jasja zuckte zurück. Die Schwulen verstummten erschrocken, nur Mütterchen flüsterte entzückt:
    »Ah, was für ein Mann!«
    »JASJA!!! WAS TUST DU HIER?!«
    Die orientalischen Prinzen verließen einer nach dem anderen auf Zehenspitzen die Küche.
    »JASJA!!! WAS TUST DU HIER?!«
    Die Bärtige rannte laut wehklagend hinterher.
    »JASJA!!! WAS TUST DU HIER?!«
    Väterchen stand keuchend auf, packte mit einer Hand die Flasche, mit der anderen Mütterchen, und begab sich gemessenen Schrittes hinaus. Mütterchen, das sich krümmte und wand, warf Nikita eine Kußhand zu.
    »JASJA! WAS …
    »Sei still, ja? Blamier mich hier nicht, du hast sowieso schon alle erschreckt!« sagte Jasja verlegen und irgendwie allzu friedfertig und versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden. Nikita riß sie ihr aus der Hand.
    »Sieh mir in die Augen! Das kannst du nicht?! Warum tust du das?! JASJA! Das bist doch nicht du! Ich erinnere mich doch …«
    »Halt. Keine Erinnerungen, bitte. Ich erinnere mich auch an alles. Ich WILL MICH AN NICHTS ERINNERN! Das ist mein Leben. Ich habe es mir ausgesucht. Und es gefällt mir! Ja!«
    »Lüg mich bitte nicht an«, sagte Nikita leise.
    Jasja fing an zu weinen. Tränen waren ihre entscheidende Waffe. Und sie handhabte sie virtuos. Sie sah Nikita einfach mit großen ehrlichen Augen an, aus denen große ehrliche Tränen rannen, und schwieg. Mach daraus, was du willst. Jasja zündete sich mit Leidensmiene eine Zigarette an.
    »Daran ist jetzt nichts mehr zu ändern. Du hast mich gehen lassen. Du hast immer gewußt, wie du leben mußt. Ich wußte das nie. Warum hast du mich gehen lassen, wo du doch so klug bist? Und jetzt kommst du her und brüllst, was ich hier tue? Ich lebe hier! JA! Selber schuld! Du hättest mich festbinden und bei dir behalten müssen!«
    »Jasja, du weißt doch genau, daß man dich nicht festhalten kann.«
    »Du hast es eben nicht richtig versucht! Du hast mich eben schlecht geliebt!«
    …
    …
    …
    »Verzeih mir bitte.«
    »Verzeih DU mir. Du bist nicht schuld, Jasja. Ich liebe dich.«
    »Ich liebe dich auch.«
    »Du hast nicht verstanden, ich LIEBE dich.«
    »Laß uns lieber über was anderes reden.«
    »Ist gut.«

14
    Von allen radikalen Freunden Roschtschins war Tjoma der anständigste. Häufig defilierten sie zu zweit, die Hände auf dem Rücken, durch den Sommergarten und redeten über Höheres. Wenn Nikita nach Piter kam, wurde er zum Gasthörer dieser wandelnden Universität. Tjoma und Roschtschin betäubten die armlosen Marmorgöttinnen mit Streitgesprächen über Baudrillard und Hakim Bey, über den Krieg der Engländer gegen die Zulus und über die Theorie der konservativen Revolution.
    Tjoma war ein Anhänger der Philosophie von Alexander Dugin und behauptete, sämtliche Werke des bärtigen Denkers gelesen und verstanden zu haben. Der Skeptiker Roschtschin war überzeugt, daß kein Mensch Dugins Theorien verstehen könne, auch Dugin selbst nicht. Worauf Tjoma verächtlich sagte:
    »Roschtschin! Du bist ein Mensch mit nur einem Gehirn. Dem Kleinhirn.«
    Dennoch bezwang Tjoma seinen Snobismus und versuchte, den breiten Massen den konspirativen Sinn von Dugins Offenbarungen zu erklären. Zu diesem Zweck fertigte er auf seinem Computerdrucker die Zeitung»Hierarchie«, in höhnisch winziger Schrift gesetzt, und schrieb vergebliche Briefe an Dugin mit der Forderung, dieser solle einen Teil der Kosten übernehmen. Dugin schwieg esoterisch, und die »Hierarchie«, die nicht nur niemand kaufen, sondern auch niemand geschenkt haben wollte, staubte auf Tjomas Hängeboden ein, bis seine Mutter Papier brauchte, um die Fensterrahmen für den Winter abzudichten. Endgültig enttäuscht von dem geizigen Dugin, machte sich Tjoma an die Übersetzung von Slavoj Žižek.
    Eines Herbstabends spazierten sie zu dritt durch den dunklen Sommergarten und erörterten die kürzliche Verhaftung Limonows und die Notwendigkeit »grundlegender Veränderungen auf allen Ebenen der Wirklichkeit«.
    Plötzlich sagte Tjoma, der immer am lautesten den Terror und die Diktatur des geistigen Proletariats

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