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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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beschworen hatte, wie nebenbei:
    »Ich habe übrigens eine Stelle bekommen.«
    »Wo?« fragte Roschtschin zerstreut, verärgert, daß er unterbrochen wurde.
    »Beim FSB«, antwortete Tjoma seelenruhig.
    Die unheilvolle kabbalistische Abbreviatur blieb in der Luft hängen. Roschtschin erstarrte zur Statue. Ein mystischer Windstoß fegte heran. Auf Roschtschins versteinerte Schultern prasselten Blätter unsichtbarer Bäume. Der marginale Philologe hustete. Tjoma wahrte olympische Gelassenheit.

    »Artjom! Besinn dich! Das sind doch Henker! Volksfeinde! Sie stecken bis zu den Ellbogen in Blut! Und in ihren Kellern sind Folterkammern!« brüllte Tjomas Vater, Jakow Petrowitsch Butman, ein alter Dissident und Küchenredner, als er von Tjomas Job erfuhr.
    Jakow Petrowitsch saß gern mit Tjoma und Roschtschin beim Wodka, rügte die »jungen Rebellen« für ihren »jugendlichen Radikalismus« und erzählte ihnen von seinem Kampf gegen das Regime, wobei er mal den einen, mal den anderen »Jungen« an seine üppig behaarte Brust drückte.
    Hätte Jakow Petrowitsch je gedacht, daß der Verrat im Schoß seiner eigenen Familie lauerte? Nein! Das hatte er in seinen schlimmsten Träumen nicht für möglich gehalten.
    »Was tust du, Artjom, bekreuzige dich! Das sind doch Inquisitoren! Mörder! Verbrecher!« jammerte der alte Butman und ließ Asche auf seinen Frotteebademantel fallen. »Ich habe dich großgezogen! Ich habe dich erzogen! Und du?!«
    »Ich habe dich gezeugt, ich werde dich auch töten!« ergänzte Roschtschin.
    »Genau!« stimmte Jakow Petrowitsch im Eifer des Gefechts zu, besann sich jedoch und sah erschrocken zu seinem Sohn – der war immerhin bei den Sicherheitsorganen, durfte man in seiner Gegenwart so reden? Würde er das womöglich als Angriff auf eine Amtsperson ansehen?
    »Und was jetzt? Muß man jetzt in seiner eigenen Familie, in seiner eigenen Küche, auf jedes Wort achten?! Tja, das nenn ich unterwandern!« klagte Butman seiner Gattin, einer friedfertigen Hausfrau und Blavatsky-Verehrerin ins Ohr.
    »Nun reg dich nicht auf, nimm deine Tabletten. Lange wird er sich da nicht halten«, sagte die kluge Frau, die sich auskannte mit dem wahren Wesen des Seins.

    Anfangs erklärte Tjoma seine Arbeit bei den Organen auf die übliche Weise: Man müsse das System von innen heraus zerstören und den Feind von Angesicht zu Angesicht kennen. Doch niemand glaubte ihm. Schließlich bekannte derphlegmatische Intellektuelle: Er habe sich vom FSB anwerben lassen, um nicht zur Armee zu müssen und nach Tschetschenien zu kommen, das er nie anders nannte als Unabhängige Republik Itschkerien. Roschtschin akzeptierte diese Version, Jakow Petrowitsch aber litt trotzdem.
    Tjomas Verhalten veränderte sich eklatant, nachdem er beim FSB angefangen hatte. Für Spaziergänge im Sommergarten und Debatten über die Revolution war keine Zeit mehr. Außerdem hätte das jetzt irgendwie zweideutig ausgesehen.
    Dafür wurde Tjoma, der sich bei Studentenbesäufnissen stets mit einer einzigen Flasche Bier begnügt hatte, um am nächsten Morgen munter in die Bibliothek zu gehen, bereits in seiner zweiten Woche beim FSB nach Hause getragen . Von seinen Kollegen.
    Als Jakow in seinem Dissidentenflur die Männer in Zivil mit dem leblosen Körper seines Sohnes im Arm erblickte, vergaß er jede Vorsicht und brüllte los.
    »Ihr Unmenschen! Tschekisten! Fanatiker! Ihr habt ihn umgebracht!«
    Doch Tjoma war nicht tot. Tjoma war sturzbetrunken. So beging man beim FSB üblicherweise die Beförderung eines Kameraden in den Offiziersrang. Die »Behörde« war groß, deshalb wurde Tjoma nun regelmäßig nach Hause gebracht. Jakow Petrowitsch erklärte den plötzlichen Alkoholismus seines Sohnes auf seine Weise. Und freute sich – zu seiner Schande – insgeheim darüber.
    »Siehst du, Njuscha!« sagte er zu seiner Frau, womit er sie vom zehnten Band Blavatsky ablenkte. »Er trinkt, das heißt, er leidet! Das heißt, sein Gewissen quält ihn! Das heißt, es ist noch nicht alles verloren. Es gibt noch Hoffnung, daß seine Hand zittern wird, wenn er uns beide erschießen soll!«
    Während seines Dienstes beim FSB entwickelte Tjoma neue Gewohnheiten. Doch das veranlaßte ihn nicht, auf alte zu verzichten. Zum Beispiel übersetzte er weiterhin Žižek und verdiente mit der antibourgeoisen Philosophie wesentlich mehr als mit dem Schutz der föderalen Sicherheit. Darum schützte Tjoma diese Sicherheit recht nachlässig. Sämtliche Geheimnisse, die er in seiner

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