Endstation Venedig
Mutter.
Wenigstens verstehe ich, was sie sagt, auch wenn jedes Wort eine Lüge ist.
Nachdem Vianello gegangen war, um mit Ivana zu sprechen, ging Brunetti wieder ans Fenster, doch nach einigen Minuten fand er das unbefriedigend und setzte sich an seinen Schreibtisch. Ohne die Akten anzusehen, die man ihm im Laufe des Morgens dort hingelegt hatte, grübelte er über die verschiedenen Möglichkeiten nach. Die erste, daß es tatsächlich eine Überdosis gewesen war, verwarf er un-besehen. Auch Selbstmord war unmöglich. Er hatte schon verzwei-felte Liebende gesehen, die ohne den anderen keine Zukunft mehr sahen, aber zu denen gehörte sie nicht. Und wenn man diese beiden Möglichkeiten ausschloß, blieb nur die eine, daß es Mord war.
Dafür hätte es allerdings der Planung bedurft, denn Zufall schloß er in solchen Dingen aus. Da waren diese Blutergüsse – keine Sekunde glaubte er an einen Sturz –, jemand konnte sie festgehalten haben, während ihr die Spritze verpaßt wurde. Die Autopsie hatte ergeben, daß sie getrunken hatte; wieviel mußte jemand trinken, um so fest einzuschlafen, daß er einen Nadelstich nicht fühlte, oder um so beduselt zu sein, daß er sich nicht dagegen wehren konnte? Und noch wichtiger: Mit wem hatte sie getrunken, bei wem hätte sie sich so entspannt gefühlt? Kein Liebhaber, denn der ihre war gerade erst umgebracht worden. Ein Freund. Und wer waren die Freunde von Amerikanern im Ausland? Wem vertrauten sie, wenn nicht anderen Amerikanern? All das deutete auf den Stützpunkt und ihre Arbeit hin. Die Antwort, wie immer sie ausfallen mochte, lag dort.
17
Es vergingen drei Tage, an denen Brunetti so gut wie nichts tat. In der Questura unterzog er sich der Alltagsroutine seines Berufs: las Berichte, unterschrieb sie, stellte einen Personalplan fürs kommende Jahr auf, ohne auch nur einmal daran zu denken, daß dies eigentlich Pattas Aufgabe war. Zu Hause sprach er mit Paola und den Kindern, die alle viel zu sehr mit dem Beginn des neuen Schuljahrs beschäftigt waren, um zu merken, wie geistesabwesend er war. Selbst die Suche nach Ruffolo interessierte ihn nicht sonderlich, denn er war sicher, daß ein so leichtgläubiger und unbesonnener Kerl bald einen Fehler begehen und der Polizei wieder in die Hände fallen würde.
Er rief Ambrogiani nicht an, und bei seinen Besprechungen mit Patta erwähnte er die Morde nicht, weder den einen, der so rasch von der Presse vergessen, noch den anderen, der niemals Mord genannt worden war; auch den Stützpunkt in Vicenza nicht. Mit einer Regelmäßigkeit, die man schon fast Besessenheit nennen konnte, spielte er seine Begegnungen mit der jungen Ärztin durch und rief sich Einzelheiten ins Gedächtnis: Wie sie aus dem Boot sprang und ihm dabei die Hand reichte; wie sie sich im Leichenschauhaus aufs Waschbecken stützte und der Schock ihren Körper schüttelte; wie sie lächelte, als sie ihm erzählte, in sechs Monaten würde sie ihr Leben beginnen.
Es lag in der Natur der Polizeiarbeit, daß er nie die Opfer kannte, deren Tod er zu untersuchen hatte. Wenn er auch noch so genau über sie Bescheid wußte, ihre Arbeit, ihre Bettgeschichten und ihren Tod, hatte er doch keines von ihnen in diesem Leben gekannt, darum empfand er eine besondere Verbindung zu Dr. Peters und wegen dieser Verbindung auch eine besondere Verantwortung, ihren Mörder zu finden.
Als er am Donnerstagmorgen in die Questura kam, erkundigte er sich bei Vianello und Rossi, aber es gab immer noch keine Spur von Ruffolo. Viscardi war nach Mailand zurückgefahren, nachdem er ei-ne schriftliche Beschreibung der beiden Männer, einer sehr groß und einer mit Bart, sowohl der Versicherung als auch der Polizei gegeben hatte. Anscheinend waren sie gewaltsam in den Palazzo eingedrun-gen, denn die Schlösser an der Seitentür waren geknackt und das Vorhängeschloß an einem Metallgitter durchgefeilt. Obwohl Brunetti nicht selbst mit Viscardi gesprochen hatte, war er nach seiner Unterhaltung mit Vianello und dem Telefonat mit Fosco überzeugt, daß da kein Diebstahl stattgefunden hatte oder, besser gesagt, höchstens am Geld der Versicherungsgesellschaft.
Kurz nach zehn verteilte eine Sekretärin die Post in den einzelnen Büros und legte Brunetti einige Briefe und einen großen Umschlag auf den Schreibtisch.
Die Briefe waren das übliche: Einladungen zu Konferenzen, Versuche, ihm spezielle Lebensversicherungen zu verkaufen, Antworten auf seine Anfragen bei verschiedenen Polizeirevieren in
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