Endstation Venedig
erlebt , erwiderte Ambrogiani und erzählte dann, wie er einmal in Aspromonte ein Entführungsopfer suchen sollte und drei Tage in den Hügeln gelegen und durch, ein Fernglas beobachtet hatte, wie Leute in einer Schäferhütte ein und aus gingen.
Und wie endete es?
wollte Brunetti wissen.
Oh, wir haben sie geschnappt.
Dann lachte er.
Aber es war
das falsche Opfer, nicht das, nach dem wir eigentlich suchten. Die Familie dieses Mädchens hatte uns gar nicht verständigt, den Fall nicht gemeldet. Sie waren bereit, das Lösegeld zu zahlen, aber wir waren da, bevor sie Gelegenheit hatten, auch nur eine Lira loszu-werden.
Was wurde aus dem anderen? Dem, den ihr eigentlich gesucht habt?
Sie haben ihn umgebracht. Wir fanden ihn eine Woche nach dem Mädchen. Sie hatten ihm die Kehle durchgeschnitten. Der Geruch hat uns aufmerksam gemacht. Und die Vögel.
Warum haben die das getan?
Wahrscheinlich, weil wir das Mädchen gefunden hatten. Wir haben die Familie davor gewarnt, etwas verlauten zu lassen, als wir das Kind zurückbrachten. Aber irgend jemand hat die Zeitungen verständigt, und die brachten es auf allen Titelseiten. >Glückliche Befreiung<, die ganze Chose, Fotos mit ihrer Mutter, und wie das Mädchen ihre erste Pasta nach zwei Monaten aß. Die Entführer müssen das gelesen haben und dachten wohl, wir hätten ihre Spur.
Daraufhin haben sie ihn umgebracht.
Warum haben sie ihn nicht einfach laufenlassen?
überlegte
Brunetti laut, und weil Ambrogiani es nicht erwähnt hatte, erkundigte er sich noch:
Wie alt war er denn?
Zwölf.
Es folgte eine lange Pause, dann beantwortete Ambrogiani die erste Frage.
Laufenlassen wäre schlecht fürs Geschäft gewesen. Andere hätten daraus womöglich geschlossen, daß es eine Chance gibt, wenn wir ihnen erst mal dicht genug auf den Fersen sind. Indem sie das Kind töteten, machten sie klar: Wir meinen es ernst, und wenn ihr nicht zahlt, dann töten wir.
Ambrogiani öffnete den Wein und goß etwas davon in die Plastikbecher. Sie aßen jeder ein Sandwich, und weil sie nichts weiter zu tun hatten, noch eins. Die ganze Zeit über hatte Brunetti bewußt nicht auf die Uhr gesehen, weil er hoffte, die Zeit würde schneller vergehen, wenn er länger damit wartete. Schließlich konnte er nicht mehr widerstehen und sah doch nach. Mittag. Die Stunden dehnten sich. Er kurbelte das Fenster herunter und blickte lange auf die Berge. Als er sich einmal umdrehte, schlief Ambrogiani, den Kopf nach links ans Fenster gelehnt.
Brunetti beobachtete den Verkehr auf der steilen Straße. Alle Autos sahen für ihn mehr oder weniger gleich aus, bis auf die Farbe oder, wenn sie langsam genug fuhren, die Nummernschilder.
Nach einer Stunde kamen immer weniger; Mittagszeit. Kurz nachdem er das festgestellt hatte, hörte er das scharfe Zischen der Luft-druckbremsen eines Lastwagens und sah einen großen Laster mit rotem Streifen an der Seite den Berg hinunterfahren.
Er berührte Ambrogiani am Arm. Der Carabiniere war sofort wach und griff nach dem Zündschlüssel. Sie fuhren auf die Straße und folgten dem Lastwagen. Etwa zwei Kilometer von ihrem Parkplatz entfernt bog dieser nach rechts ab und verschwand eine schmale unbefestigte Straße hinunter. Sie fuhren an der Abzweigung vorbei und weiter bergab, aber Brunetti sah, wie Ambrogiani ans Armatu-renbrett faßte und den Tageskilometerzähler auf Null stellte. Nach einem Kilometer fuhr er an die Seite und stellte den Motor ab.
Was war das für ein Nummernschild?
Vicenza , sagte Brunetti und holte sein Notizbuch heraus, um sich die Nummer zu notieren, solange er sie noch frisch im Gedächtnis hatte.
Was meinst du?
Wir bleiben hier, bis wir ihn zurückkommen sehen, oder wir warten eine halbe Stunde und sehen dann mal nach.
Nach einer halben Stunde war der Laster noch nicht wieder zu-rückgekommen, und Ambrogiani fuhr wieder bis zu der Einmündung, an der er vorhin abgebogen war. Sie fuhren daran vorbei und noch ein Stückchen weiter, dann hielten sie rechts an, und Ambrogiani parkte den Wagen zwischen zwei Markierungspfosten.
Als sie ausgestiegen waren, ging Ambrogiani zum Kofferraum. Er öffnete ihn und griff hinein. Neben dem Reservereifen steckte eine großkalibrige Pistole, die er herausnahm und in seinen Hosenbund steckte.
Hast du auch eine?
fragte er.
Brunetti verneinte.
Ich habe sie heute nicht mitgenommen.
Ich habe noch eine zweite hier. Willst du sie?
Brunetti schüttelte den Kopf.
Ambrogiani schlug den Kofferraumdeckel zu, und
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