Endstation Venedig
mußte gar nicht erst zu Gamberetto gehen, um sich in Gefahr zu begeben. Er war ein junger Mann, der Bücher wie Christliches Leben im Zeitalter des Zweifels im Regal hatte. Wahrscheinlich hatte er getan, was jeder naive junge Soldat an seiner Stelle getan hätte – es seinem Vorgesetzten gemeldet. Amerikanischer Müll.
Amerikanischer Militärmüll. Nach Italien gebracht, um ihn hier abzuladen. Heimlich.
Sie gingen den schmalen Weg zurück, ohne daß ihnen weitere Lastwagen begegneten. Als sie zum Auto kamen, setzte Brunetti sich hinein und ließ die Beine nach draußen hängen. Dann stieß er mit zwei raschen Bewegungen die Schuhe von seinen Füßen, so daß sie ins Gras am Straßenrand flogen. Anschließend zog er, sorgfältig darauf bedacht, nur den oberen Rand anzufassen, seine Socken aus und warf sie hinterher. Zu Ambrogiani gewandt, sagte er: Meinst
du, wir könnten auf dem Weg zum Bahnhof an einem Schuhgeschäft halten?
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Ambrogiani erklärte Brunetti auf der Rückfahrt zum Bahnhof in Mestre, wie es zu solchen Mülltransporten kommen konnte. Der italienische Zoll durfte zwar jeden Laster inspizieren, der aus Deutschland zum amerikanischen Stützpunkt fuhr, aber es waren so viele, daß nicht jeder überprüft wurde, und wenn, dann oft nur sehr ober-flächlich. Vom Flugverkehr gar nicht zu reden; auf den italienischen Militärflughäfen Villafranca und Aviano konnten die Maschinen frei starten und landen – und laden und entladen, was immer sie wollten. Auf Brunettis Frage, warum denn so viel transportiert werden müßte, versuchte Ambrogiani ihm klarzumachen, was Amerika alles tue, damit seine Soldaten und deren Familien zufrieden seien.
Eis, Tiefkühlpizza, Spaghettisoße, Kartoffelchips, Spirituosen, kali-fornische Weine, Bier, all das und noch mehr wurde eingeflogen, um die Regale im Supermarkt zu füllen, ganz zu schweigen von den Läden, in denen Stereoanlagen, Fernseher, Rennräder, Blumenerde und Unterwäsche verkauft wurden. Dazu die Transporte von schwe-rem Gerät, Panzern und Jeeps. Er erinnerte sich an den Marinestützpunkt in Neapel und den Stützpunkt in Livorno; per Schiff konnte alles herangeschafft werden.
Schwierigkeiten scheint’s da für sie also nicht zu geben , meinte Brunetti.
Aber warum bringen sie das Zeug alles hierher? fragte Ambrogiani.
Die Erklärung dafür erschien Brunetti ziemlich einfach.
Die
Deutschen sind in solchen Dingen wachsamer. Ihre Umweltbewe-gung ist ziemlich einflußreich. Wenn in Deutschland jemand von so einer Geschichte Wind bekäme, wäre der Teufel los. Nachdem sie jetzt wiedervereinigt sind, würde irgendwer davon zu reden anfangen, ob man die Amerikaner nicht einfach rauswerfen sollte, statt zu warten, bis sie von allein gehen. Aber hier in Italien kümmert es keinen, was irgendwo hingekippt wird, sie müssen also nur die Kennzeichnung entfernen. Wenn ihr Müll dann gefunden wird, weiß man nicht mehr, von wem er stammt, alle können behaupten, sie wüßten nichts davon, und keiner fühlt sich dafür zuständig, es herauszubekommen. Und bei uns redet niemand davon, die Amerikaner rauszuwerfen.
Aber sie haben nicht alle Kennzeichnungen entfernt , berichtigte Ambrogiani.
Vielleicht dachten sie ja, sie könnten alles zuschütten, bevor es jemand findet. Es ist ja keine Affäre, einen Bulldozer hinzuschaffen und Erde darüber zu verteilen. Es sah sowieso aus, als hätten sie da nicht mehr viel Platz.
Warum schaffen sie das Zeug nicht einfach nach Amerika zu-rück?
Brunetti sah ihn lange von der Seite an. So naiv konnte er doch wohl nicht sein.
Wir versuchen unseren Müll in der Dritten Welt abzuladen, Giancarlo. Für die Amerikaner sind wir vielleicht ein Drittweltland. Oder vielleicht sind alle Länder außerhalb Amerikas Dritte Welt.
Ambrogiani murmelte etwas Unverständliches vor sich hin.
Vor ihnen stauten sich die Autos an den Zahlstellen am Ende der Autostrada. Brunetti zog seine Brieftasche heraus und gab Ambrogiani zehntausend Lire, steckte das Wechselgeld ein und verstaute die Brieftasche wieder. An der dritten Ausfahrt scherte Ambrogiani nach rechts aus und reihte sich ins Chaos des Samstagnachmittags-verkehrs ein. Schrittweise und im ständigen Kampf gegen andere Verkehrsteilnehmer krochen sie auf den Bahnhof von Mestre zu.
Ambrogiani hielt davor, ohne sich um das Parkverbotsschild und das ärgerliche Hupen eines anderen Wagens, der hinter ihm kam, zu kümmern.
Na?
fragte er mit einem Blick zu Brunetti.
Sieh zu, was du über
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