Endstation Wirklichkeit
nach dem ersten Läuten wurde der Hörer am anderen Ende der Leitung abgenommen.
„Hallo?“
David schloss die Augen und lächelte zufrieden. Der Klang der Stimme trieb die düsteren Gedanken aus seinem Kopf und ließ ein unbeschreibliches Glücksgefühl in ihm hochsteigen. „Guten Morgen, Mike!“
„David! Schön, dass du anrufst. Hast du gut geschlafen?“
David ließ sich aufs Bett fallen und dachte über eine passende Antwort nach. „Nein, überhaupt nicht“, stöhnte er theatralisch.
Mike tat überrascht. „Nanu? Warum das denn nicht?“
„Weil du nicht hier warst! Du hast mir gefehlt.“ Wenn auch die Behauptung, nicht gut geschlafen zu haben, nicht wirklich der Wahrheit entsprach, so stimmte doch auf jeden Fall der angegebene Grund dafür. Er vermisste Mike in der Tat, und obwohl sie sich erst gestern gesehen hatten, so kam es ihm wie eine Ewigkeit vor.
„Wie war’s gestern Abend?“, fragte David.
Mike war am vergangenen Abend bei Dreharbeiten gewesen, und David hatte sich entschieden, zu Hause zu bleiben, weil er kein Interesse hatte, erneut stundenlang zu warten. So war ihm nichts anderes übrig geblieben, als die Stunden zu zählen und sich auf ihr nächstes Zusammentreffen zu gedulden.
„Wie immer! Nichts Besonderes. Wie du weißt, gibt es bei diesen Filmen nicht viele Dialoge. Als Tontechniker ist man da nicht sehr gefordert. Und wie geht’s dir heute Morgen?“
David erzählte von dem Telefonat mit seiner Mutter. „Es ist alles so kompliziert. Ich vermisse meine Eltern, aber solange sie mich nicht so akzeptieren, wie ich bin – ich glaube –, solange kann und will ich ihnen nicht gegenübertreten.“
„Aber vielleicht würde ein persönliches Gespräch mehr bringen?“, meinte Mike verständnisvoll.
„Vielleicht, aber sie sind noch nicht so weit. Ich bin noch nicht so weit!“
„Na ja, du wirst das schon machen. Du musst ihnen Zeit geben, Geduld haben. Wenn ich dir irgendwie helfen kann, lass es mich wissen, okay?“
„Na klar doch. Sei einfach nur da. Das ist das Einzige, was ich brauche.“
„Verlass dich drauf: Ich werde da sein! … Hast du nicht heute Morgen einen Termin?“
David bestätigte. Er hatte an diesem Vormittag ein Vorstellungsgespräch bei den Universal Filmstudios. Sie suchten Komparsen für eine größere Produktion, und David hatte sich kurzerhand beworben. Vor einigen Tagen war eine Einladung zu den Probeaufnahmen gekommen. „Ja, ich muss auch gleich los. Ich bin schon ziemlich aufgeregt.“
„Das glaube ich dir. Aber du wirst das schon machen. Nicht, dass sie dich direkt zum Hauptdarsteller ernennen.“ Mike schmunzelte.
„Haha!“, spielte David den Beleidigten. „Drück mir lieber die Daumen, dass sie mich überhaupt irgendwo im Hintergrund zulassen. Damit wäre ich erst mal zufrieden!“
„Ich drücke alles, was ich habe. Sehen wir uns nachher?“
„Das will ich doch sehr hoffen. Noch eine Nacht ohne dich halte ich nicht aus. Dann springe ich vor Verzweiflung aus dem Fenster!“
„Und steigst dann die Feuerleiter hinunter?“, alberte Mike.
David grinste vor sich hin. „Na warte! Das zahle ich dir heim. Wir können uns um zwei Uhr in unserem Café treffen.“
Mike war einverstanden, und sie beendeten das Gespräch.
5
D avid wusste zunächst nicht, warum er wieder fröstelte. Seine Gedanken kreisten immerwährend um die Vergangenheit. Um die schönen Teile davon. Er dachte nur an die zufriedenen Momente, und dennoch fror er, so wie er es bereits vor Sonnenaufgang getan hatte. Schwer atmend schloss er die Augen.
Da war noch etwas anderes, das sein Bewusstsein langsam, aber unaufhaltsam, aus der Vergangenheit zurückzerrte. Das ihn entfernte von den glücklichen und erfüllten Tagen. Es ließ ihn erneut jene Resignation und unbeschreibliche Traurigkeit empfinden, die immer wieder die Grenze zur Wut überschritt.
David öffnete die Augen und blickte nach oben. Das ohnehin zögerliche Blau des Himmels war verschwunden, und auch das frühe Licht der aufgehenden Sonne konnte nichts mehr gegen die Verzweiflung seiner Seele tun. Dicke, tiefgraue Wolken hatten sich über die Stadt und das Umland gelegt, und ein Regen hatte eingesetzt, der ihn bereits völlig durchnässt hatte.
Ein sonniger Frühlingsmorgen hätte ohnehin nicht zu seiner Stimmung gepasst. Die graue Monotonie der Landschaft und die durch den Regen nur noch schemenhaft zu erkennende Silhouette der Stadt drückten viel eher die Verzweiflung und die Enttäuschung aus,
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