Endstation Wirklichkeit
in die Gegenrichtung vorbeiraste. Der aufbrausende Lärm holte ihn schlagartig in die Wirklichkeit zurück. Doch der daraus resultierende Luftzug, der aus unerklärlichen Gründen nach frisch gemähtem Gras roch, lenkte seine Gedanken wieder nach Glennville zurück. Zu jenem Abend, als er mit Mike gemeinsam durch das Dorf spaziert war.
Heute war er allein.
Sein Dasein war erfüllt von der Trauer über all das, was in den vergangenen Wochen geschehen war. Augenblicklich wurde David bewusst, dass er Alan nie richtig vermisst hatte. Nie hatte er jemals auch nur daran gedacht, was aus ihm oder aus ihnen beiden hätte werden können, wenn er nicht von der Großstadt geträumt und geschwärmt hätte. Wenn er damit nicht ihre Beziehung zerstört und sich selbst zugrunde gerichtet hätte. Er hatte Alan nicht in vergleichbarer Weise nachgetrauert, wie er es bei Mike tat.
Die Erkenntnis durchfuhr David wie ein Messerstich. Seine Gefühle für Mike waren so viel stärker. Und als reiche dieses Wissen noch nicht aus, verdeutlichte es ihm auch die Wirklichkeit. Die Realität, in der seine Liebe zwar noch immer vorhanden, doch nicht mehr lebbar war. Sie war verloren wie die Vergangenheit, so wenig greifbar wie die nach frischem Gras riechende Luft an diesem Morgen. Nichts war geblieben, als die Erinnerung an die schönste Zeit, die er je erlebt hatte, und die Tatsache, dass er das Liebste verloren hatte, das er je besessen hatte. Er allein hatte diesen Verlust zu verantworten. Niemand anderes trug Schuld an der Entwicklung der Dinge. Wieder einmal war es sein Versagen. Er war die Ursache für all den Kummer, den er in den letzten Wochen erlitten hatte. Den er nicht nur sich selbst, sondern auch andern zugefügt hatte.
Wenn er an jenem warmen Sommerabend in Glennville doch nur geahnt hätte, wie furchtbar und schmerzvoll die kommenden Monate enden sollten – jene Zeit, die eigentlich so vielversprechend begonnen und ihn von einem Glücksgefühl zum nächsten getragen hatte.
Hätte er damals nur vermutet, dass er als Folge jetzt den härtesten Kampf seines Lebens kämpfte – er hätte alles anders und vor allem viel besser gemacht. Vielleicht müsste er dann diese Schlacht heute Morgen nicht ausfechten.
***
„Hier! Hier ist es!“
Sie waren allein auf dem kleinen Friedhof von Glennville. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Am Horizont war noch das letzte Licht der bereits untergegangenen Sonne zu erkennen, und der volle Mond stand leuchtend hell am Himmel über der kleinen Kirche, dessen Licht gespenstische Schatten über die Gräber warf.
Sie waren lange Zeit schweigend durch das Dorf gegangen, hatten schließlich auch das letzte Haus am Straßenrand hinter sich gelassen und waren dann einem kleinen Weg durch die angrenzenden Felder gefolgt.
Letztlich hatten sie kehrtgemacht, und als sie den Dorfrand wieder erreicht hatten, bat David seinen Freund, mit ihm kurz am Friedhof vorbeizugehen. Er wollte das Grab seines Bruders besuchen.
David dachte über seinen Aufbruch nach, erinnerte sich an Dinge, die er hier erlebt und auch erlitten hatte. Da waren die Tage der unbeschwerten Kindheit, in denen er mit den wenigen anderen Mädchen und Jungen die Zeit im Dorf und in den umliegenden Wäldern verbracht hatte. Da waren auch die quälend langen Stunden in der kleinen Dorfschule, in der immerhin acht Schüler in nahezu demselben Alter unterrichtet worden waren.
Und er erinnerte sich an die vielen gemeinsamen Stunden mit Alan. Wie sie sich näher kennengelernt hatten. Wie sie in noch fast kindlichen Spielen ihre erwachenden Körper erforscht und sich schließlich ihr Interesse am eigenen Geschlecht gestanden hatten, immer darauf bedacht, von niemandem beobachtet zu werden.
Es war merkwürdig, aber David konnte sich nicht entsinnen, wie und wann aus der anfänglich betörenden Zärtlichkeit Liebe geworden war. Sie war einfach da gewesen, und auch wenn dieses Gefühl von damals nicht die Intensität der Liebe hatte, die er heute für Mike empfand, so war es doch Liebe gewesen. Die erste Liebe, die er in seinem Leben empfunden und die ihm viel gegeben hatte. Sie hatte Alan und ihn mit einem unsichtbaren, aber starken Band verbunden, war die Verwirklichung ihres schwulen Lebens, für das niemand im Dorf Verständnis gehabt hätte. Wie glücklich war er damals gewesen, als er jemanden gefunden hatte, der wie er war und mit dem er sein Interesse für das eigene Geschlecht hatte teilen können.
„Hier. Hier liegt
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