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Endstation Wirklichkeit

Endstation Wirklichkeit

Titel: Endstation Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Klemann
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Tratschgeschichten noch die Fragen über sein neues Leben in der großen Stadt, seine Wohnung und den Job konnten darüber hinwegtäuschen, dass ein Problem unausgesprochen zwischen ihnen stand.
    Das beharrliche Schweigen des Vaters und die kurzen Antworten ließen David deutlich spüren, dass dieser nicht akzeptieren wollte, dass er schwul war.
    „Mr Edwards, werden Sie bei der nächsten Wahl wieder für den Stadtrat kandidieren?“
    Es war das erste Mal, dass Mike sich an Davids Vater wandte, und David bewunderte seinen Freund für dessen Mut. Zuerst schien es tatsächlich, als wollte sein Dad nur das Essen hinunterschlucken, bevor er antwortete. Doch David war sich sofort bewusst, sein Vater hatte noch nie so lange gebraucht, um einen Bissen zu kauen. Als er ohne auf Mikes Frage zu reagieren, die Gabel wieder voll beladen an den Mund führte, war klar, dass er nichts erwidern würde. Es machte vielmehr den Eindruck, als wollte er nicht nur Mikes Frage, sondern dessen ganze Anwesenheit ignorieren.
    Stumm wechselte seine Mutter den Blick zwischen seinem Vater und Mike. Sie schien nervös zu werden, wartete aber ebenfalls auf eine Antwort. Als sie das Schweigen nicht länger ertrug, erklärte sie mit einem freundlichen Lächeln: „Die nächsten Wahlen sind erst in drei Jahren, und wer weiß, was bis dahin noch alles passiert.“
    Mike nickte verstehend und sah David kurz an. Dieser schien erleichtert zu sein, als er ihm zulächelte und ihm stumm sagte: Ist nicht schlimm.
    Als das gemeinsame Essen endlich vorüber war, war David mehr als froh. Sofort gingen Mike und er hinauf in sein Zimmer.
    „War doch gar nicht so schrecklich“, stellte Mike fest, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatten und er David in die Arme nahm.
    „Findest du? Ich fand das Verhalten meines Vaters ziemlich daneben.“
    Mike hob verwundert die Augenbrauen. „Was hast du erwartet? Dass er plötzlich begeistert davon ist, dass du schwul bist? Dass er mich als den lang ersehnten Schwiegersohn willkommen heißt, als wäre ich das, was er sich schon immer gewünscht hat?“
    David lächelte. „Nein, das natürlich nicht. Aber nur weil er mit meiner Homosexualität nicht einverstanden ist, entschuldigt das nicht sein Benehmen. Es war einfach unverschämt, wie er deine Frage ignoriert hat. Als wärst du überhaupt nicht anwesend. Es war beschämend.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Und außerdem hatte ich gehofft, dass er sich damit abgefunden hat, dass ich schwul bin. Er muss es ja nicht toll finden und laut jubelnd durchs Dorf ziehen, aber irgendwie hatte ich mir gewünscht, dass das Wiedersehen in ihm etwas bewegt und er zumindest akzeptiert, dass ich glücklich bin. Aber was soll’s. Es ist nicht so wichtig.“
    Mike fasste David bei den Schultern und sah ihm in die Augen. „Doch, es ist wichtig. Sag so was nicht. Dir ist es wichtig! Ich merke doch genau, wie enttäuscht du bist. Aber du musst ihm Zeit lassen. Irgendwann wird er sich nicht mehr dagegen wehren. Darauf müssen wir warten. Und wir sollten versuchen, ihm dabei zu helfen. Gib nicht auf!“
    David seufzte zustimmend. „Du hast wohl recht. Aber es ist nicht einfach, Geduld zu haben.“ Er atmete tief durch. „Genug Trübsal geblasen! Was hältst du davon, wenn wir noch etwas spazieren gehen? Ich brauche jetzt etwas frische Luft.“
    Mike stimmte zu, und gemeinsam verließen sie schließlich das Haus. Über dem Dorf lag ein warmer Abendwind, der den Duft der Felder herübertrug.
    Der Geruch erinnerte David an seine Jugend, als er als unbeschwerter Junge durch die Wiesen und Felder gestreunt war. Und er erinnerte ihn an Alan, an die gemeinsame Zeit mit seinem ersten Freund.

3
     
    W ie recht Mike damals gehabt hatte. Wie genau hatte er seine Empfindungen erkannt, die gespielte Gleichgültigkeit durchschaut und den tief sitzenden Schmerz, die Wut und Enttäuschung über das Verhalten seines Vaters gesehen. Von der Leere, die dessen Ignoranz in ihm verursacht hatte, kaum zu sprechen. Mike hatte bemerkt, dass es ihm um mehr ging, als um die Akzeptanz seines Schwulseins. Er hatte viel tiefer in ihn hineingesehen, weit hinter die Barrikade aufgesetzter Gelassenheit geschaut. Er hatte gewusst, dass er nach Anerkennung seines Vaters suchte. Nach dem Gefühl, verstanden und geliebt zu werden, egal, wen er liebte. Auch wenn er nicht so war, wie sein Vater das von ihm erwartet hatte.
    David wurde in seinen Gedanken jäh unterbrochen, als auf den Gleisen unter ihm ein Zug

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