Endstation Wirklichkeit
Ricky, mein Bruder“, sagte David und deutete auf das Grab vor sich. „Es ist immer wieder ein merkwürdiges Gefühl hierherzukommen. Obwohl es schon so lange her ist, kann ich es noch immer nicht richtig glauben. Es ist seltsam, sich vorzustellen, dass dort unten mein Bruder liegt … Irgendwie vermisse ich ihn. Ich habe ihn immer vermisst.“
„Kann ich verstehen. Schließlich war er dein Bruder. Ich habe zwar keine Geschwister, aber jemanden zu verlieren, der einem so nahesteht, ist sicher nicht einfach. Du warst noch sehr jung. Ich glaube, solche Wunden heilen auch nach vielen Jahren nicht.“
David nickte zustimmend. „Vielleicht hat er es besser, da wo er jetzt ist. Manchmal frage ich mich, wie er wohl auf mein Schwulsein reagiert hätte. Vielleicht wäre er jemand gewesen, mit dem ich früher hätte reden können, der mir zugehört und mich sogar verstanden hätte.“ Er machte eine Pause und sog die frische Abendluft in seine Lungen, als könnte er damit die düsteren Gedanken in sich verscheuchen. „Komisch, manchmal wünsche ich mir, ich würde an seiner Stelle da liegen. Dann wäre mir das alles hier erspart geblieben. Auch der Frust mit Dad.“
Mike fasste David am Arm und drehte ihn zu sich. „Sag so was nicht! Damit macht man keine Scherze!“
David blickte mit ernster Miene zu Boden. Düstere Schatten zogen über sein Gesicht. „Das war auch kein Scherz.“
„Nun hör mal! Es ist sicher nicht toll, wie dein Vater reagiert hat, und es war bestimmt auch nicht einfach, als Schwuler in diesem Dorf zu leben. Aber du hast dich richtig entschieden und alles hinter dir gelassen. Auch wenn du die Akzeptanz deiner Eltern noch so sehr vermisst, so wie du jetzt lebst, ist es doch deutlich besser als der Tod! Dort an seiner Stelle zu liegen, ist keine Alternative!“
David zuckte mit den Schultern.
„Außerdem ... wir hätten uns sonst niemals kennengelernt!“ Mike lächelte ihn vielsagend an.
Dagegen konnte selbst David nicht ankämpfen. Wie immer hatte Mike ihn mit einem Lächeln und seinen funkelnden blauen Augen auf seine Seite gezogen. Langsam, aber stetig, entfernte es ihn von seinen trüben Gedanken, und in seinem Inneren fand sich Platz für seine Gefühle für Mike.
„Du hast recht! Lass uns gehen, sonst werde ich noch schwermütig.“
Mike gab ihm einen Kuss. Dann verließen sie den kleinen Friedhof wieder und gingen zurück zu Davids Elternhaus.
***
„David? ... David! ... Telefon für dich!“
David sah Mike fragend an. Wer konnte das sein? Es wusste doch niemand, dass er hier war. Am gestrigen Abend waren sie auch niemandem begegnet.
Sie waren bereits vor einer Stunde aufgestanden und warteten nun in seinem Zimmer auf das gemeinsame Frühstück. Den Vater hatten sie seit gestern Abend nicht mehr gesehen. Vermutlich hatte er sich ausgemalt, was sie in der Nacht in seinem Haus, in einem Bett unter seinem Dach, nur ein paar Schritte von ihm entfernt, taten. Er hatte sich wahrscheinlich zurückgezogen, um sich den Anblick zu ersparen, wenn sie gemeinsam am Morgen aus seinem Zimmer kamen.
Von unten erklang abermals der Ruf von Mrs Edwards. „Willst du nicht endlich ans Telefon gehen?“
„Ähm ... ja ... sicher ... Ich komme!“ Verwundert über den Anruf stieg David die Treppe hinunter und nahm den Hörer des Telefons vom Tisch. „Hallo?“
Schweigen wartete am anderen Ende der Leitung, dennoch war die Verbindung nicht unterbrochen. David hörte ein leises Atmen. Irgendjemand war da am Apparat. „Hallo? Wer ist denn da?“
Es dauerte einen Moment, bis er eine Antwort bekam.
„Ich bin’s!“
Keine zwei Sekunden später erkannte David, wem die Stimme gehörte. Nein, das stimmte nicht ganz. Er hatte sie eigentlich sofort der richtigen Person zugeordnet, aber sie am Morgen so unvermittelt zu hören, war so überraschend, dass er einige Augenblicke brauchte, um zu realisieren, wer mit ihm sprach.
„Hallo, Alan! Woher weißt du, dass ich hier bin?“ Eine klügere und sinnvollere Frage war ihm auf die Schnelle nicht eingefallen, um das Schweigen zwischen ihnen zu beenden. Seine Stimme bebte leicht. War er etwa aufgeregt? Oder war es nur die Überraschung, Alans Stimme am anderen Ende der Leitung zu hören?
„Ich hab’ dich gestern gesehen. Bist du böse, weil ich anrufe?“
„Nein, natürlich nicht. Warum sollte ich? Ich bin nur total verblüfft! Wie geht es dir?“
„Nun ja, es geht so. Unkraut vergeht nicht. Und selbst?“
„Mir geht’s so weit auch
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