Endstation Wirklichkeit
geliebt, wenn er unter Anleitung des Vaters ein paar Tasten drücken durfte und schließlich die Schublade mit einem lauten „Pling“ herausgesprungen war.
Das Geschäft war für seinen Vater wie ein Heiligtum. Es war sein Ein und Alles, und David mochte es überhaupt nicht, wenn ihn dessen konservative Spießigkeit immer wieder ermahnt hatte, die Finger von den Sachen zu lassen und nichts unordentlich zu machen.
Das Einzige, wofür sein Vater außer dem Geschäft noch Zeit zu haben schien, war die Tätigkeit im „Stadtrat“. Regelmäßig kamen hier die – nach der Meinung seines Dads – „führenden“ Männer des Ortes zusammen, um sich über die Geschicke von Glennville und dessen Einwohner zu beraten. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er mit vierzehn oder fünfzehn ständig Diskussionen über die Entscheidungen des Ältestenrates – wie er ihn immer hämisch genannt hatte, um seinen Vater zu ärgern – geführt hatte. David war überzeugt gewesen, dass sich der Rat nie ausreichend, und wenn überhaupt, dann viel zu altmodisch, um die Bedürfnisse der Jugend gekümmert hatte. Doch sein Vater war nie auf seine Ideen und Vorschläge eingegangen. Stattdessen hatte er erklärt, dass für die Jugend genug getan werde oder dass kein Geld für die Anregungen vorhanden sei.
Seine Mutter hatte anfangs versucht, bei diesen Diskussionen zu vermitteln. Doch irgendwann hatte sie eingesehen, dass die beiden Streithähne sich in ihrem Wortschwall und in ihren unterschiedlichen Meinungen nicht bremsen ließen. Sie hatte sich schließlich herausgehalten. Im Nachhinein betrachtet, bewunderte David sie, wie sie versucht hatte, Frieden zu stiften und die Balance in der Familie zu halten. Sie war schon immer diejenige gewesen, die darauf geachtet hatte, dass keine Auseinandersetzung zu heftig und kein Streit zu laut wurde. Sie hatte die Familie zusammengehalten. Besonders seit dem Tod seines Bruders konnte sie Spannungen nicht ertragen. In Situationen, in denen sich die Meinungsverschiedenheiten in heftigen Streitgesprächen entluden, hatte sie dafür gesorgt, dass nach kurzer Zeit wieder Ruhe eingekehrt war.
„Ich bin mir noch nicht sicher, wie ich mich fühle!“, antwortete Mike und sah David lächelnd an. „Ich glaube, ich bin ziemlich nervös.“
David legte eine Hand auf die Schulter seines Freundes und versuchte, beruhigende Worte zu finden. „Es wird schon werden. Ich bin auch nervös. Trotz allem sind meine Eltern aber keine Menschenfresser.“
Mike schmunzelte. „Das habe ich auch nicht befürchtet. Aber es ist das erste Mal für mich, dass ich ... na ja, dass ich meinen Schwiegereltern gegenübertrete.“
„Hast du die Eltern deines früheren Freundes nie kennengelernt?“
Mike schüttelte den Kopf. „Nein. Sie lebten in New York, und in den zwei Jahren, in denen wir zusammen waren, habe ich sie nie gesehen. Er hatte so gut wie keinen Kontakt zu ihnen.“
„Dann ist heute sozusagen Premiere!“ David machte eine Pause und fügte dann hinzu: „Wenn du es dir anders überlegt hast ...“
„Nein, nein, es ist ja nichts Schlimmes daran, die Eltern seines Freundes kennenzulernen“, unterbrach Mike ihn. „Außerdem bedeutet es dir so viel. Das ist viel wichtiger!“
„Danke, Mike, mir ist das wirklich sehr wichtig. Wichtiger noch als die Sache mit dem neuen Job. Ich bin so froh, dass du mitgekommen bist.“
David sah Mike tief in die Augen, und er hätte ihn am liebsten in die Arme genommen und fest an sich gedrückt.
Jetzt waren es nur noch wenige Schritte bis zum Haus seiner Eltern. Auch in seiner Magengegend machte sich zunehmend Nervosität breit. Ein letztes Mal holte er tief Luft und sah Mike fragend an. Dieser forderte ihn mit einem zustimmenden Nicken auf, an die Tür zu klopfen, und schließlich signalisierte David mit einem zaghaften Pochen, dass sie angekommen waren.
***
Das Essen war wie immer köstlich. David hatte die Kochkünste seiner Mutter wirklich vermisst. Er war mit dem, was er gelernt hatte, immer recht zufrieden gewesen, ja, sogar ein bisschen stolz, aber er konnte nicht mit den kulinarischen Leistungen seiner Mutter mithalten.
Nur die Stimmung beim Abendessen war nicht so natürlich und ungezwungen, wie sie vor seinem Weggehen gewesen war. Seine Mum versuchte zwar krampfhaft, die Atmosphäre durch mehr oder weniger belanglose Themen aufzulockern, doch weder Gespräche über das Wetter, die Ernte oder das Dorf mit all seinen üblichen Klatsch- und
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