Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
Station: eine Masse aus Stielaugen, klaffenden Kiefern, faserartigen Kiemenschlitzen, jeder so groß wie der Thopter, pulsierenden Tentakeln, die Hunderte von Metern lang werden, baumelnden Fühlern, jeder mit einer kalten »Laterne« von großer Leuchtkraft versehen – selbst bei Tage – und Mündern, vielen Mündern, jeder groß genug, um ein Unterseeboot der Flotte zu verschlucken. Vor de Soyas Augen machen sich die Fischereimannschaften bereits über den durch Dekompression explodierten Kadaver her, sägen Tentakel und Stielaugen ab und zerlegen das weiße Fleisch in transportierbare Würfel, bevor die heiße Sonne alles verdirbt.
Als sich die beiden Captains der Tiefseetauchboote vergewissert haben, dass die Gegend von Mündern und anderen tödlichen ‘canthen gesäubert wurde, tauchen sie mit ihren Booten zwölftausend Faden tief. Zwischen Wäldern von Röhrenwürmern, die so groß sind wie Rotholzbäume auf der Alten Erde, finden sie ein erstaunliches Sammelsurium von alten Wracks –
Tauchboote der Wilderer, die der ungeheure Druck auf die Größe von Koffern zusammengepresst hat, eine Marinefregatte, die seit einem Jahrhundert vermisst wird. Außerdem finden sie Stiefel – Dutzende Stiefel.
»Das liegt am Gerben«, sagt Lieutenant Sproul zu de Soya, während die beiden die Monitore im Auge behalten. »Das ist seltsam, aber schon auf der Alten Erde so gewesen. Bei einigen spektakulären Bergungsmanövern –
beispielsweise einem alten Oberflächenschiff namens Titanic – wurden keine Leichen gefunden, dazu ist das Meer zu gierig, aber jede Menge Stiefel. Etwas im Gerbungsprozeß des Leders stößt Meeresbewohner dort ab... und hier.«
»Bringen Sie sie herauf«, befiehlt de Soya über die Kabelverbindung.
»Die Stiefel?«, fragt der Captain des Tauchboots zurück. »Alle?«
»Alle«, sagt de Soya.
Die Monitore zeigen ein Durcheinander von Abfall auf dem Meeresgrund: Gegenstände, die die Besatzungen der Plattform im Verlauf von fast zwei Jahrhunderten durch Achtlosigkeit verloren haben, persönliche Habseligkeiten der ertrunkenen Wilderer und Matrosen, Metall- und Plastikabfälle, die Fischer und andere weggeworfen haben. Die meisten Gegenstände sind korrodiert, von Tiefseekrustentieren und durch den unvorstellbaren Druck verformt, aber einige sind neu und haltbar genug, dass man sie identifizieren kann.
»Alles eintüten und heraufschicken«, sagt de Soya, als sie glänzende Trümmer entdecken, bei denen es sich um ein Messer, eine Gabel, eine Gürtelschnalle handeln könnte, oder...
»Was ist das?«, will de Soya wissen.
»Was?«, fragt der Captain des tiefsten Tauchboots. Er beobachtet die ferngesteuerten Greifer und nicht seine Monitore.
»Dieses glänzende Ding... sieht aus wie eine Faustfeuerwaffe.«
Der Monitor zeigt eine andere Perspektive, als das Tauchboot wendet.
Die starken Suchscheinwerfer gleiten über den Grund und strahlen den Gegenstand an, während die Kamera darauf zoomt. »Es ist eine Faustfeuerwaffe«, meldet die Stimme des Captains. »Noch sauber. Durch den Druck ein wenig beschädigt, aber im Wesentlichen intakt.« De Soya kann das Klicken des Einzelbildaufzeichners hören, der vom Monitor abfilmt. »Ich hole es«, sagt der Captain.
De Soya verspürt den Wunsch, ein »vorsichtig« hinzuzufügen, schweigt aber. In den Jahren als Kommandant eines Kriegsschiffes hat er gelernt, seine Leute ihre Aufgabe erledigen zu lassen. Er sieht zu, wie der Greifarm auf dem Monitor auftaucht und die ferngesteuerte Klaue den glänzenden Gegenstand behutsam aufhebt.
»Das könnte Lieutenant Belius’ Flechettepistole sein«, sagt Sproul. »Sie ist mit ihm untergegangen und bisher nicht geborgen worden.«
»Die Stelle scheint etwas weiter draußen zu sein«, überlegt de Soya und sieht zu, wie sich das Bild auf dem Monitor verändert.
»Die Strömungen hier sind stark und unberechenbar«, sagt der junge Offizier. »Aber ich muss gestehen, dass es nicht wie eine Flechettepistole ausgesehen hat. Zu... ich weiß auch nicht... eckig.«
»Ja«, sagt de Soya. Die Unterwassersuchscheinwerfer strahlen ein Tauchboot an, das seit Jahrzehnten da unten begraben liegt. De Soya denkt an seine Jahre im Raum und denkt daran, wie leer dieses andere Unbekannte im Vergleich zu den Meeren irgendwelcher Welten ist, wo es von Leben und Geschichte wimmelt. Der Priester-Captain denkt an die Ousters und ihre seltsamen Versuche, sich an den Weltraum anzupassen, so wie diese Röhrenwürmer und ‘canthen und
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