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Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung

Titel: Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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und begutachtete den Knöchel. »Ich glaube nicht, dass er schlimm verstaucht ist«, sagte sie. »Er dürfte ein wenig anschwellen, aber du solltest problemlos damit laufen können.«
    »Gut«, sagte ich dümmlich und spürte ihre bloße Hand auf meinem bloßen Knöchel. Dann zuckte ich ein wenig zusammen, als sie etwas Kaltes aus dem MedSet auf das geschwollene Fleisch sprühte.
    Sie halfen mir beide auf die Füße, wir suchten unsere Ausrüstung zusammen, dann brachen wir drei Arm in Arm den rutschigen Hang hinauf auf, dorthin, wo die Wolken heller leuchteten.
    Wir kamen hoch an den Hängen des heiligen T’ai Shan ins Sonnenlicht. Ich hatte die Kapuze des Hautanzugs und die Maske abgenommen, aber Aenea schlug vor, dass ich den Anzug anbehalten sollte. Ich zog die Thermojacke darüber, damit ich mich nicht so nackt fühlte, und sah, dass meine Freundin meinem Beispiel folgte. A. Bettik rieb sich die Arme, und mir fiel auf, dass Höhe und Kälte seine Haut fast weiß gemacht hatten.
    »Alles in Ordnung?«, fragte ich ihn.
    »Bestens, M. Endymion«, sagte der Androide. »Aber noch ein paar Minuten in dieser Höhe...«
    Ich sah zu den Wolken hinunter, wo wir die beschädigten Drachen zusammengelegt und zurückgelassen hatten. »Ich schätze, wir verlassen diesen Hügel nicht mit den Paragleitern.«
    »Richtig«, sagte Aenea. »Schau.«
    Wir hatten die Felder mit den Felsbrocken und die Geröllhänge hinter uns gelassen und ein grasbewachsenes Hochland zwischen hohen Klippen betreten, dessen sukkulente Wiesen von Zygeißenspuren und Wegen aus Steinplatten durchzogen waren. Schmelzwasser der Gletscher floss als Rinnsale über Felsen, aber es gab Brücken aus Steinplatten. Ein paar Hirten hatten uns gleichgültig aus der Ferne beobachtet, während wir höher geklettert waren. Nun hatten wir eine Haarnadelkurve unter den großen Eisfeldern umrundet und schauten auf zu etwas, das nur ein weißer Tempel auf grauen Schutzwällen sein konnte. Die leuchtenden Gebäude – die unter den blauweißen Eismassen und schneebedeckten Hängen, die sich, so weit das Auge reichte, bis zum blauen Zenit aufwärts erstreckten, strahlend hell wirkten – sahen aus wie Altäre. Aenea hatte auf einen großen weißen Stein am Wegesrand gezeigt, in dessen glatte Oberfläche folgendes Gedicht eingeritzt war:

    Womit kann ich den Hohen Gipfel vergleichen?
    Über den umliegenden Provinzen verschwindet der Anblick seiner blaugrünen Schattierung niemals.
    Vom Gestalter der Formen mit der erhabenen Kraft des Göttlichen ausgestattet,
    Scheiden seine Hänge in Schatten und Sonnenschein die Nacht vom Tag.
    Mit bebender Brust steige ich den Wolken entgegen,
    Folge mit angestrengtem Blick Vögeln, die nach Hause fliegen,  
    Eines Tages werde ich den unvergleichlichen Gipfel erreichen.
    Und alle Berge mit einem einzigen Blick schauen.

    Tu Fu, T’ang-Dynastie, China, Alte Erde

    Und so betraten wir Tai’an, die Stadt des Friedens. An den Hängen lagen Dutzende Tempel, Hunderte Geschäfte, Gasthäuser und Wohnhäuser, zahllose kleine Schreine und eine belebte Straße mit Verkaufsständen, die alle mit bunten Segeltuchbaldachinen bespannt waren. Die Menschen hier waren reizend – das ist ein armseliges Wort, aber das einzig angemessene, das mir in den Sinn kommt –, alle mit dunklem Haar, leuchtenden Augen, weißen Zähnen, gesunder Haut und einem Stolz und einer Energie, die in ihrer Haltung und ihrem Gebaren Ausdruck fanden. Ihre Kleidung bestand aus gefärbter Seide und Baumwolle, bunt, aber auf elegante Weise schlicht, und man sah viele, viele Mönche in orangefarbenen und roten Gewändern.
    Man hätte es der Menge verziehen, wenn sie uns angestarrt hätte – niemand besucht T’ai Shan in den Monsunmonaten –, aber die Blicke, die ich sah, waren alle herzlich und unbekümmert. Tatsächlich verweilten viele Leute auf den Straßen, begrüßten Aenea namentlich und berührten ihre Hand oder ihren Ärmel. Da fiel mir ein, dass sie den Hohen Gipfel schon einmal besucht hatte.
    Aenea zeigte auf eine große Wand aus weißem Felsgestein, die einen Hang über der Stadt des Friedens bedeckte. Auf der polierten Oberfläche dieser Wand war, wie sie erklärte, in riesigen chinesischen Schriftzeichen die Diamantsutra eingraviert worden: eines der grundlegenden Werke der buddhistischen Philosophie, erklärte sie, das Mönche und Passanten an die ultimative Beschaffenheit der Realität erinnerte, wie sie durch die Weite des blauen Himmels oben symbolisiert

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