Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
Vertiefung in der Klippe hinter der Landeplattform und geht zum Kabel zurück.
Flaschenzüge surren, als die ersten Verfolger die letzten hundert Meter des Kabels überwinden. Bis zum Horizont sind weitere zu sehen, schwarze Perlen auf einer dünnen Schnur. Nemes lächelt, phasenverändert ihre beiden Hände, hebt sie hoch und trennt das Kabel durch.
Sie ist überrascht, wie wenige der unzähligen verlorenen Männer und Frauen schreien, als sie von dem zuckenden Kabel abrutschen und in den Tod stürzen.
Nemes läuft zu den gespannten Seilen, klettert frei daran hinauf und schneidet sie alle durch – Aufstiegstaue, Taue zum Abseilen, Sicherheitsleinen, alles. Fünf bewaffnete Polizisten von K’un Lun, von der Polizeiwache von Hsiwang mu, stellen sich ihr auf dem Gratweg südlich der Gleitbahn entgegen. Sie phasenverändert nur den linken Arm und stößt sie in den Abgrund.
Nemes schaut nach Nordwesten, justiert ihr Infrarot- und Teleskopsehvermögen und zoomt auf die große Hängebrücke aus Bonsaibambus, die die Vorgebirge des Hochwegs zwischen dem Phari- und dem K’un-Lun-Massiv verbindet. Die Brücke stürzt vor ihren Augen ab, Rippen und Ranken und Haltekabel zucken, während sie zur westlichen Felswand hin fallen, das untere Ende der Brücke schwingt in die Phosgenwolken.
Das wäre erledigt, sendet Briareus.
Wie viele waren darauf, als sie abgestürzt ist?, erkundigt sich Nemes.
Viele. Briareus unterbricht die Verbindung.
Eine Sekunde später schaltet sich Scylla ein. Nordbrücke eingestürzt. Ich zerstöre unterwegs den Hochweg.
Gut, sendet Nemes. Wir sehen uns in Jokung.
Die drei kommen aus der veränderten Phase, als sie die Stadtkluft bei Jokung passieren. Leichter Regen fällt, die Wolken sind dicht wie Sommernebel. Nemes’ dünnes Haar klebt an ihrer Stirn, und sie bemerkt, dass Scylla und Briareus ebenso aussehen. Die Menge macht ihnen Platz. Die Simsstraße zum Tempel, der in der Luft hängt, ist frei.
Nemes übernimmt die Führung, als sie sich der letzten Hängebrücke vor dem Sims unterhalb der Treppe zum Tempel nähern. Dies war das erste Artefakt, das Aenea renoviert hatte – eine einfache, zwanzig Meter lange Brücke über einer schmalen Spalte zwischen spitzen Felsnadeln tausend Meter über den niederen Klüften und Wolken –, und nun bauschen sich die Monsunwolken unter dem tropfenden Bauwerk und ringsum.
Etwas steht – in den dichten Wolken nicht zu sehen – am Klippenrand auf der anderen Seite der Brücke. Nemes schaltet Infrarotlicht zu und lächelt, als sie sieht, dass die hoch gewachsene Gestalt keinerlei Wärme abstrahlt. Sie sondiert das Ding mit dem in ihrer Stirn generierten Radar und studiert das Bild: drei Meter groß, Dornen, Klingen als Finger der vier überdimensionalen Hände, ein vollkommen radarreflektierender Schutzpanzer, scharfe Schneiden auf Brust und Stirn, keine Atmung, Stacheldraht ragt aus den Schultern, Stacheln aus der Stirn.
Perfekt, sendet Nemes.
Perfekt, stimmen Scylla und Briareus zu.
Die Gestalt am anderen Ende der tropfenden Brücke zeigt keinerlei Reaktion.
Wir schafften es mit nur ein paar Metern Spielraum bis zum Berg. Als wir die unteren Schichten der Strahlströmung verlassen hatten, war unser Sinkflug konstant und unumkehrbar. Über dem Wolkenmeer herrschten wenige Auf-, aber viele Abwinde, und auch wenn wir die erste Hälfte des hundert Klicks breiten Abgrunds in wenigen Minuten nervenkitzelnden Aufstiegs bewerkstelligten, war die zweite ein Furcht erregender Abstieg –
mal waren wir sicher, dass wir es mühelos schaffen würden, mal überzeugt, dass wir in die Wolken stürzen und das Antlitz unseres eigenen Todes nicht einmal zu sehen bekommen würden, bis die Tragflächen unserer Drachen auf dem Säuremeer aufschlugen.
Wir sanken tatsächlich in die Wolken, aber es waren Monsunwolken, Wasserdampfwolken, atembare Wolken. Wir drei flogen so nahe beieinander, wie wir konnten, blaues Delta, gelbes Delta, grünes Delta, sodass sich Metallgestänge und Bespannung unserer Paragleiter manchmal fast berührten, weil wir mehr Angst davor hatten, einander zu verlieren und allein zu sterben, als zusammenzustoßen und gemeinsam abzustürzen.
Aenea und ich hatten die Kom-Fasern, unterhielten uns aber im Verlauf des spannenden Sinkflugs Richtung Osten nur einmal miteinander. Der Nebel war dichter geworden, ich konnte nur die Spitze ihrer gelben Tragfläche linker Hand sehen, und ich dachte: Sie hat ein Kind... sie hat jemand anderen
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