Endymion Spring - Die Macht des geheimen Buches
findet.«
»Was soll das heißen?«
»Das heißt, dass du viel zu blöd bist, um das Rätsel allein zu lösen«, sagte sie.
»Denkst du!«
»Jawohl! Ich bin jedenfalls cleverer als du.«
»Aber längst nicht so clever wie du denkst«, sagte er böse und fuhr von seinem Holzklotz auf. »Du bist nichts als ein albernes Mädchen in einem albernen Regenmantel, das glaubt, Mum und Dad werden zusammenbleiben, solange du ihn trägst. Aber du wirst schon sehen! Sie werden sich scheiden lassen, und dann leben wir sowieso auf verschiedenen Seiten des Ozeans. Dann bist du froh, weil du mich nie mehr sehen musst! Und überhaupt... Endymion Spring hat mich ausgewählt und nicht dich, kapier das endlich.«
Obwohl er wusste, dass er sie mit diesen Worten tief getroffen hatte, war er nicht auf eine solche Reaktion gefasst: Duck machte ein Gesicht, als müsse sie gleich niesen, doch stattdessen brach sie in Tränen aus. Er wollte sie in den Arm nehmen, aber sie schüttelte seinen unbeholfenen Versuch einer Wiedergutmachung ab und schlug die Hände vors Gesicht. Schluchzend wiegte sie den Oberkörper vor und zurück.
Blake hatte sie seit dem Tag des Großen Streits nicht mehr so weinen sehen. Seine Worte hatten eine tiefe Wunde aufgerissen.
Schweigend, aber voller Mitgefühl hatte der Mann sie beobachtet, so als wisse er genau um den Schmerz und das Leid, die das Buch verursachen konnten. Als aber der Name Endymion Spring fiel, stand er auf und kam auf sie zu. Der Name schien wie ein Schlüssel in ein Schloss zu passen und befreite ihn endlich aus seiner Untätigkeit.
Er sprach immer noch nicht, aber er setzte sich zwischen sie und griff in eine seiner ausladenden Taschen. Er brachte ein altes, ramponiertes Buch zum Vorschein - dasselbe, in dem er vor der Buchhandlung gelesen hatte. Es bestand nicht aus leeren Seiten, wie Duck ihren Bruder glauben gemacht hatte, sondern war eng bedruckt mit altertümlichen, mit Häkchen versehenen Buchstaben. Dazwischen gab es kleine Illustrationen: Engel, Skelette und Teufel, auch solche von Männern an Druckerpressen - ähnlich den Bildern, die ihnen Jolyon gezeigt hatte. Manche der Seiten waren eingerissen, andere mit hässlichen braunen Flecken übersät. Das Buch war schon so zerlesen, dass es fast auseinander fiel.
Duck hörte zu weinen auf und hob den Kopf.
Inzwischen blätterte der Obdachlose weiter bis zum Ende des Buches, wo eine Reihe leerer weißer Seiten eingefügt war. Sie sahen aus wie frisch gefallener Schnee, ganz im Gegensatz zu dem schmuddeligen bräunlichen Papier im vorderen Teil — es war feinstes seidiges, von silbrigen Linien durchzogenes Pergament.
Blake holte tief Luft. »Woher haben Sie das?« Er erkannte sofort, dass es einzelne Seiten aus Endymion Springs Buch sein mussten.
Als Antwort zeigte der Mann auf eine der leeren Seiten, und als Blake hinsah, entstand nach und nach ein Bild vor seinen Augen. Es war, als hätte jemand auf einen Spiegel gehaucht und würde auf das beschlagene Glas zeichnen. Linien bildeten sich, ganz schwach zuerst, dann kräftiger. Sie waren wie Hautkratzer von einer Nadel, kurz bevor das Blut hervorquillt. Seine Augen wurden groß vor Staunen.
»Was steht da?«, fragte Duck aufgeregt. »Sag doch!«
»Siehst du's denn nicht?« Blake war verblüfft.
»Nein. Das Gedruckte vorne im Buch hab ich gesehen, aber hier sehe ich nichts«, erklärte sie und rutschte an die äußerste Kante ihres Holzklotzes vor. »Diese Seite ist wie eine aus dem leeren Buch -genau wie ich dir vor der Buchhandlung gesagt habe.«
Ihre Stimme klang jetzt begeistert, und wenn auch noch eine ganze Portion Neid mitschwang, so siegte am Ende doch ihre Neugier.
Blake wusste nicht recht, wie er die Erscheinung auf dem Papier beschreiben sollte. Es war ein alter Baum mit einem seltsamen Tier, das zwischen den Blättern saß. Ein Drache. Er sah ihn sehr deutlich vor sich und streckte die Hand aus, um ihn anzufassen. Das Tier schien seine Anwesenheit zu spüren, ließ nervös den Kopf von einer Seite zur anderen pendeln und wich schließlich mit einer hastigen Bewegung vor Blakes tastenden Fingern zurück.
Plötzlich aber, vielleicht wegen der kleinen Berührung, zitterte der Drache und löste sich langsam auf. Die Umrisse des Baumes wurden immer schwächer, bis sie schließlich ganz verschwanden und nur noch eine Erinnerung auf der Seite zurückblieb.
Blake stockte der Atem. »Was war das?« Er dachte an den Drachen, den er letzte Nacht im Baum vor seinem Fenster
Weitere Kostenlose Bücher