Endymion Spring - Die Macht des geheimen Buches
manchen ragten Papierrollen wie Glasflaschen heraus, andere waren von Büchern eckig ausgebeult. Der Mann hatte in seinem Gewand eine tragbare Bibliothek bei sich. Blake hätte gern gewusst, was für Bücher es waren, aber der Mann schwieg und wartete geduldig, dass Blake als Erster das Wort ergreifen würde.
Der Junge überlegte, wie er anfangen könnte. Endlich räusperte er sich und stellte die Frage, die ihn am meisten beschäftigte. »Wer sind Sie?«
Fünfzehn
er Mann dachte eine Weile über die Frage nach und sagte nichts. Dann, um das Schweigen zu überbrücken, sprach Blake aus, was ihm vorher plötzlich in den Sinn gekommen war: »Sind Sie Johannes Gutenberg?«Duck reagierte als Erste. »Meinst du das etwa ernst?«, prustete sie los. »Natürlich ist er nicht Gutenberg! Gutenberg ist vor mehr als fünfhundert Jahren gestorben, du Dödel!«
Blake wurde rot. Seltsamerweise aber wurden die Gesichtszüge des Mannes weicher, ein Lächeln spielte um seine Lippen. Blake sah es mit Staunen. Es war, als hätte jemand ein zerknülltes Blatt Papier glatt gestrichen und einen versteckten Gruß darauf sichtbar gemacht. Die Blicke des Fremden schienen plötzlich nicht mehr so fern und unnahbar, sondern zeigten neues Leben - anders als das Feuer, in dem er mit seinem Stab herumstocherte.
Der Mann öffnete den Mund und wollte reden, aber es kam kein Ton über seine Lippen. Blake lauschte angestrengt, aber die Stimme des Mannes schien wie eingetrocknet, nur ein leichtes Atemgeräusch war zu hören. Ohne ein Wort gesagt zu haben, schloss er den Mund wieder.
Blake runzelte die Stirn. »Wie bitte?« Vielleicht hatte er es ja nicht richtig gehört. Doch der Fremde schüttelte nur den Kopf und drückte den Finger an die Lippen. Seine Augen aber lächelten.
Blake wandte sich an seine Schwester. »Meinst du, dass er Hunger hat?«
»Sei nicht blöd«, sagte sie. »Wahrscheinlich hat er einfach seit Ewigkeiten mit niemandem mehr gesprochen. Vielleicht hat er seine Stimme verloren.«
Blake dachte kurz darüber nach. Konnte man tatsächlich das Sprechen verlernen? Das musste furchtbar sein. Er biss sich auf die Lippe. Offenbar erwartete der Mann von ihm, dass er wusste, wie dieses Gespräch anzufangen und zu führen sei, aber Blake gingen zu viele Fragen durch den Kopf. Er wusste nicht, welche er zuerst stellen, geschweige denn, wie er sie formulieren sollte.
»Danke für den Drachen«, sagte er schließlich.
Der Mann nahm seine Mütze ab und kratzte sich die zottelige Mähne darunter.
»Was für einen Drachen?«, fragte Duck.
Er hatte ganz vergessen, dass sie nichts davon wusste. »Er hat gestern früh einen Drachen bei uns vorbeigebracht.«
»Was?«, platzte sie heraus. »Das ist unmöglich! Ein Drache! Es gibt keine Drachen! Wie soll er dann einen ...«
»Ich meine einen Origamidrachen, den er aus ganz besonderem Papier gefaltet hat«, sagte Blake. »Aus einem ähnlichen Papier wie die Seiten in dem Buch, das ich gefunden habe.«
»Warum hast du mir nichts davon gesagt?«, rief Duck beleidigt. »Ich hätte dir helfen können!«
»Ich habe deine Hilfe nicht gebraucht. Außerdem bin ich selber dahintergekommen, was er bedeutet.«
»Ach ja? Und was bedeutet der Drache, Einstein?«
»Er bedeutet, dass wir ... ich meine, dass ich ... den Mann nach dem unbeschriebenen Buch fragen soll.«
Der Mann nickte, aber weder Blake noch Duck sahen es. Sie hatten angefangen zu streiten und warfen einander wütende Blicke zu.
»Und was genau willst du ihn fragen?«
»Ich weiß noch nicht«, sagte er lahm. »Mir wird schon was einfallen, wenn du mich nicht dauernd unterbrichst.«
»Ha! Dir würde noch nicht mal was einfallen, wenn er dir die Frage aufschreiben würde. So wirst du weit kommen, du Dussel.«
»Hör mal, du hast das Buch nicht gefunden und du hast den Papierdrachen nicht bekommen - also halt dich da raus. Die Sache geht dich überhaupt nichts an.«
Er zog das Halstuch des Hundes aus der Tasche und wickelte es um seine Finger wie ein Boxer, der sich die Knöchel bandagiert. »Du bist ja nur neidisch«, brummte er und sah seine Schwester von der Seite an.
»Ach ja? Auf wen denn?«
»Auf mich. Weil ich das Buch gefunden habe.«
»Du meinst, verloren«, erinnerte sie ihn. »Oder hast du das schon vergessen?«
»Natürlich nicht.«
Sie spürte, dass sie Oberwasser bekam. »Bestimmt hat das Buch seinen Irrtum längst erkannt und sich wieder versteckt«, stichelte sie. »Bis jemand anders kommt und es
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