Endzeit
Schreie der Gemarterten zu ertragen.
Diesmal dauerte es länger als sonst, bis es ihm gelang. Er spürte seinen Körper wie ein schweres Gefäß, in das er seinen Geist wie eine Flüssigkeit füllte. Hier drinnen standen ihm viel mehr Sinne zur Verfügung. Mit einem Teil seines Bewußtseins war er in der Zelle, mit einem anderen eilte er durch die Gänge auf der Suche nach Rud-nik. Und mit wieder einem anderen befand er sich auf einer seltsamen Ebene, die nur aus flirrenden, wunderschönen Farben zu bestehen schien. Am liebsten hätte er sich dort niedergelassen, aber seine anderen Bewußtseinsebenen ließen es nicht zu.
Rastlos zog es ihn weiter.
Er gelangte in einen Wachraum, in dem einige der Gefängniswärter herumlungerten. Überrascht schauten sie auf, so als spürten sie sein Bewußtsein. Aber natürlich war sein reiner Geist nicht zu sehen.
Unter den Wächtern war einige, die Kierszan als die wiedererkannte, die ihn und Rudnik ergriffen hatten. Zorn wallte in ihm auf, als er daran zurückdachte und in ihre brutalen Gesichter sah.
Aber er hatte keine Zeit, sich hier länger als nötig aufzuhalten. Er wußte nicht, wie lange ihm die Versenkung glücken würde. Sie war kräftezehrender, als er sich in seinem geschwächten Zustand eingestehen wollte.
Es zog ihn weiter. Er mußte wissen, was mit Rudnik passiert war.
Sein Geist durchstieß die Wände, als handelte es sich um keine feste Substanz.
Das Gefängnis kam ihm immer mehr vor wie ein riesiges Menschenlager. Nur daß die Menschen, die hier festgehalten wurden, den Wolfskeim in sich trugen. Überall in den Zellen hausten Gefangene unter unwürdigsten Bedingungen.
Endlich erreichte er die Zelle, in der er und Rudnik zusammen mit anderen eingepfercht gewesen waren. Wie zuvor die Wächter, so blickten auch seine Schicksalsgenossen erstaunt umher, als sie den Eintretenden spürten. Sie waren irritiert, und Unruhe machte sich unter ihnen breit.
Kierszan zog sich rasch zurück. Rudnik war nirgendwo zu entdecken. Was hatte man mit ihm angestellt? Hatte man ihn längst getötet oder verkauft?
Er irrte weiter. Kaltes Fackellicht fiel auf den steinernen Boden der Gänge. Kierszan ließ sich treiben, speiste seinen Geist mit Rudniks Bild und sandte seine Bewußtseinsfinger aus.
Die Realität veränderte sich. Er nahm die Gänge nicht mehr als solche wahr, sondern als farbige, pulsierende Tunnel. Wie in einem Vexierbild sah er durch die Wände hindurch, auch sie nur mehr wabernde Farben, die sich überlappten. Das ganze Gefängnisgebäude lag vor ihm wie eine abstrakte Rißzeichnung. Drinnen nahm er leuchtende Punkte war. Zunächst irritierten sie ihn, aber dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Es waren die Lebensenergien der Menschen - der Gefangenen wie der Wärter -, die er auf diese Weise wahrnahm.
Er konzentrierte sich weiter darauf, bis er auf einen einzelnen isolierten Punkt stieß, in dem kaum mehr Energie glühte. Sie war fast erloschen.
Kierszan war sich sicher, daß er Rudnik gefunden hatte. Wie ein unsichtbarer Blitz fuhr er durch Wände und Mauern, bis er sich schließlich in einer winzigen Kammer befand. Sie war so klein wie die, in der sich sein eigener Körper aufhielt.
Rudnik lag zusammengekrümmt am Boden. Er regte sich selbst dann nicht, als Kierszan seine Gedanken auf ihn konzentrierte. Es konnte nicht sein, daß er zu spät gekommen war! Es durfte einfach nicht sein! Aber er war unfähig, den Körper des Freundes zu berühren, ihn zu untersuchen.
Die Ungewißheit verlieh ihm ungeahnte Kraft. Der Wunsch, Rud-nik zu helfen, wirkte wie ein Magnet, der sein körperliches Ich mit dem freischwebenden Bewußtsein vereinte. Von einem Moment zum anderen war er wieder in seinem Körper. Aber dieser Körper befand sich nun in Rudniks Zelle!
Nun erst begriff er, was Chiyoda gemeint hatte. Seine präkognitiven Kräfte waren nur die Spitze des Eisbergs seiner wahren Fähigkeiten!
Doch ihm blieb wenig Zeit, diese Erkenntnis zu verdauen. Rasch beugte er sich hinab und untersuchte den Reglosen. Die Wärter hatten Rudnik übel zugerichtet. Kierszan fühlte den Puls und das Pochen der Halsschlagader. Gottlob war noch Leben in ihm.
»Rudnik, komm zu dir!« Kierszan schüttelte ihn vorsichtig, aber der Freund gab nur ein gequältes Stöhnen von sich. Sie hatten ihm derart zugesetzt, daß er über kurz oder lang sterben würde, wenn ihm niemand half!
Kierszan überdachte kurz die Möglichkeiten, die ihm blieben. Er konnte seinen Geist wieder
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