Endzeit
Gabrielle.«
»Nicht der Rede wert.« Der Kaffee ist gut, stark und schwarz und kräftigend. »Ich gelte jetzt offiziell als arbeitsunfähig.«
»Falls Bethany recht hat, ist das sowieso egal«, sagt Ned. Vielleicht will er mich trösten.
Ich beachte ihn nicht und sage zum Physiker: »Ich mag zwar in meinen körperlichen Möglichkeiten eingeschränkt sein, aber dein Verhalten legt nahe, dass du mich auch für unzurechnungsfähig hältst.«
»Die Polizei sollte dich nicht verdächtigen. Daher durftest du nicht wissen, was wir planen. Oder was wir getan haben.« Sein Gesichtsausdruck ist flehend. »Ich hatte gehofft, genügend Hinweise zu hinterlassen, damit du erkennst, dass ich dahinterstecke.«
»Das habe ich auch. Und ich habe dich der Polizei gegenüber gedeckt und eine Haftstrafe wegen Justizbehinderung riskiert.«
Aus dem Nebenzimmer plärrt mit unerträglicher Lautstärke die Titelmelodie der
Simpsons.
|260| »Da fordert jemand Aufmerksamkeit«, seufzt Ned und steht auf. »Ich sehe mal nach ihr.«
»Nehmen Sie ihr die Süßigkeiten weg«, rufe ich ihm hinterher. »Und sie braucht frische Verbände.«
Als die Tür ganz geschlossen ist, hole ich tief Luft. Ich spüre, dass mich der Physiker eindringlich ansieht.
»Liebes …« Er legt mir die Hand auf den Arm, doch ich stoße sie gewaltsam weg.
»Fass mich nicht an. Und nenn mich nicht so!«
»Hey, was ist denn los mit dir?«, fragt er gekränkt.
»Was hast du sonst noch mit Kristin Jonsdottir getrieben?«
Sein Gesichtsausdruck wechselt von Sorge zu Verwunderung. »Ich habe sie überhaupt nicht gesehen. Ich war in Thailand und Paris, falls dir das entgangen sein sollte. Warum bist du so wütend?«
Wo soll ich anfangen? Es ist zu demütigend. Was ich auch sage, es wird verbittert und nach Selbstmitleid klingen. Ich habe auch meinen Stolz. Ich schließe die Augen und atme tief ein. Als ich sie wieder öffne, ist er noch da. Der Fernsehlärm im Nebenzimmer verstummt, Bethany protestiert. Ich höre Wörter wie »Bastard« und »Arschloch« und leise Ermahnungen von Ned.
»Na ja, wenn du es mir nicht sagen willst …«
»Soll ich es buchstabieren? Na schön. Ich weiß über sie Bescheid. Okay?
Ich weiß es
.«
»Scheiße, lass mich los!«, kreischt Bethany nebenan. »Du schwanzlutschendes Arschloch! Ich kann das allein!« Dann Ned mit scharfer Stimme: »Mensch, sieh nur, was du angerichtet hast! Herrgott!«
Die Tür geht auf, und Kristin Jonsdottir kommt lächelnd herein.
Sie geht mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Sie hat eines dieser Gesichter, bei denen man unwillkürlich zweimal hinschaut. Eine breite Stirn und ruhige Augen. Heiterer Gleichmut. »Ga brielle . Ich freue mich so, Sie endlich kennenzulernen.«
|261| Nebenan setzt Bethany zu einer neuen Tirade an.
»Gabrielle, das ist Kristin«, sagt der Physiker, ohne den Lärm zu beachten.
Ich ergreife zögernd ihre Hand, lasse sie aber so schnell wie möglich wieder los.
»Kristin Jonsdottir, mit weichem J. Ich bin Isländerin.« Der Akzent klingt verlockend, man möchte mehr hören, wenn man in sie verliebt ist. Mir fällt auf, dass ihr die Begegnung überhaupt nicht peinlich zu sein scheint. Sie sieht sogar glücklich aus. Dann dämmert es mir, und ich werde rot. Natürlich hat der Physiker ihr nichts von uns erzählt. So wie er es auch Ned nicht erzählt hat. Ich bin keine Bedrohung für sie. Bin es nie gewesen.
»Ich habe recherchiert«, sage ich. »Aber das weiche J wurde nirgendwo erwähnt.« Sie reagiert nicht auf die Ironie in meiner Stimme. Sie lächelt immer noch und mustert mich mit ihren ruhigen, freundlichen Augen. In der Welt der Frauen gibt es mehrere Gruppen: jene, die sich mit Make-up beschäftigen, jene, die es nicht tun, und jene, die es nicht nötig haben. Sie gehört zur letzten Gruppe: eine Frischluftfrau, die ihre Kohlenstoffemissionen kompensiert.
»Ich habe mich darauf gefreut, Sie kennenzulernen. Normalerweise gibt es kaum Berührungspunkte zwischen Kunsttherapeutinnen und Leuten, die sich mit der Welt von vor fünfundfünfzig Millionen Jahren beschäftigen.«
Oder zwischen Ex-Freundin und neuer Geliebter?
Ich werfe dem Physiker einen wütenden Blick zu, worauf er nur mit den Achseln zuckt, als täte man ihm Unrecht. Ned kommt herein und begrüßt Kristin. Er wirkt erschüttert und lässt sich dankbar aufs Sofa fallen.
»Puh. Mein Gott.«
»Alles geklärt?«
»Sie hat mich gekratzt.« Er zeigt seinen Unterarm. Striemen, besetzt mit blutigen Perlen.
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