Endzeit
gespürt«, sagt er. Dann nähern wir uns wieder dem Meer und können es mit eigenen Augen sehen. Der ganze Strand glitzert im grellen Sonnenlicht. Einen Moment lang sagen wir gar nichts, betrachten nur das Chaos aus Gallert und Schleim. Dann deutet Frazer Melville zum Himmel, wo ein Schwarm schwarzer Vögel kreist. Bald ist die Luft ganz dunkel.
»Sie fliegen weg.«
»Wohin?«, frage ich. »Wohin sollten sie schon fliegen?«
|337| »Dahin, wo wir auch hinfahren«, murmelt eine heisere Stimme vom Rücksitz. Sie lacht dreckig. Ich drehe mich zu ihr um. Der schwarze Kajal um ihre Augen ist schon verschmiert. Ein aufgeklebter Metallstecker an ihrer Oberlippe ist lose, und der rußige Lippenstift ist zu einem unirdischen Grau verblasst, wie bei den Zombies in den Splatterfilmen.
Die Nachrichten melden das ungewöhnliche Verhalten von Delphinen und Vögeln, das an der gesamten britischen Küste bis zum Kanal hinunter zu beobachten ist. Auf einer Karte der gesamten Nordseeregion zeigen animierte Schaubilder, wie sich die verstörten Schwärme im Wasser und in der Luft von der norwegischen Küste her ausbreiten. In Norwegen haben Meeresbiologen diese Phänomene bereits mit Buried Hope Alpha in Verbindung gebracht. Bethany gähnt gleichgültig und klappt ihren Mund hörbar zu.
Der Umweltexperte Harish Modak, der die Verantwortung für die Geo-Graffiti von heute Morgen übernommen hat, hat für ein Uhr eine Pressekonferenz angekündigt. Er wird erklären, weshalb er die öffentliche Aufmerksamkeit auf Traxoracs Methanförderung in der Nordsee lenken will.
Ich versuche mir vorzustellen, wie Harish, Kristin und Ned im Konferenzraum eines Hotels den internationalen Medien gegenübertreten. Blitzende Kameras, Blumensträuße aus Mikrofonen, die alle auf sie gerichtet sind. Und das, was danach kommt: Verkehrschaos, Straßenkämpfe, Plünderungen, das hemmungslose, brutale Drängen nach Sicherheit. An einer Ampel am Stadtrand von Lowestoft male ich mir ein Riff der Zerstörung aus. Die Frau da drüben, die mit den schweren Einkaufstüten im Kofferraum kämpft; das dickliche kleine Mädchen im lila Sweatshirt mit dem Aufdruck »Klei nes Luder«, das die Haare zu hundert straffen Zöpfen geflochten hat; der Mann im Anzug, der vorsichtig ein Kaugummi von seiner Schuhsohle kratzt; die Frau im Schaufenster des Friseurs, die mit aufwendig dekorierten Fingernägeln in einer Ausgabe von
Heat
blättert; das gesamte Personal des Geländewagenhändlers, der mit unglaublichen Finanzierungen wirbt. Ein übergewichtiges Kind |338| aus Lowestoft, auf dessen T-Shirt »Kleines Luder« zu lesen ist, ist nicht gerade die Krone der Schöpfung. Aber es ist auch keine Schande für die Menschheit. Es ist einfach nur es selbst, so wie ich auch. Eine Frau, die im Auto sitzt, Wasser trinkt und vor Angst kotzen könnte. Jetzt läuft die Wettervorhersage. Über Schottland hat es Wolkenbrüche gegeben. Die Stürme ziehen rasch nach Süden. Es folgen Werbespots für Lebensversicherungen und Diätkliniken. Die muffige Luft wird dunkler und ist von einer mineralischen Kühle durchdrungen. Eine Welle der Klaustrophobie schlägt über mir zusammen, als wären wir in ein tiefes, stinkendes Loch gefallen. »Könntest du bitte mal anhalten?« Meine Hand umklammert Frazer Melvilles Oberschenkel. »Das ist nicht sehr romantisch, aber ich muss kotzen.«
Ab einem gewissen Alter sollte eine Frau ihr Herz nicht mehr an materielle Gegenstände hängen, an sentimentalen Nippes. Ich habe dieses Alter eindeutig noch nicht erreicht. Bei der überstürzten Abreise aus dem Bauernhaus habe ich mein liebstes Frida-Kahlo-Buch auf dem Tisch vergessen. Nachdem ich aus der offenen Tür gekotzt und die letzten Reste von Würde zusammengekratzt habe, kann ich seinen Verlust körperlich spüren. Es ist, als hätte ich einen lieben Menschen verraten und könnte es nie wieder gutmachen. Um die aufsteigende Paranoia zu unterdrücken, betrachte ich Dinge, die mir Trost schenken. Den Wangenknochen, den ich leicht beiße, wenn wir miteinander schlafen. Seine kräftige Nase. Den Bartschatten, rot wie oxidierte Erde. Er hat mir den Mund abgewischt, mir Wasser zu trinken gegeben, mich ganz fest gedrückt und mein Gesicht geküsst, obwohl ich mich gerade eben übergeben hatte. Ich lege meine Hand auf seinen Oberschenkel, wo sie hingehört, und er legt seine darüber. Ich bin unendlich dankbar. Dennoch kann das die Angst nicht ganz vertreiben. Wenn ich uns irgendwohin wünschen könnte,
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