Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Jensen
Vom Netzwerk:
ausweichen müssen. Von Bethany keine Spur. Dann entdecke ich im Seitenspiegel einen Umriss, und meine Kehle schnürt sich zusammen. Sie liegt reglos hinter uns auf dem Gehweg, Arme und Beine von sich gestreckt.
    Mit forensischer Klarheit sehe ich ihr zerschmettertes Rückgrat. Vor allem die zerstörten Wirbel. Den Bruch auf Höhe von T3, vielleicht auch T4.   Der Albtraum erwacht brutal zum Leben. Mein Herz hämmert wild.
    Eine Sekunde später ist sie aufgesprungen, als wäre nichts geschehen, und die Erleichterung macht mich schwindlig. Sie rennt an uns vorbei in eine Seitenstraße, wobei ihr schwarzes Riesen- T-Shirt im Wind flattert. Ich frage mich, ob jemand die Polizei gerufen hat. Und ob ich mich in diesem Moment nicht sogar darüber freuen würde. Vor uns teilt ein greller Blitz den Himmel, gefolgt von einem heftigen Donnerschlag, der erschreckend nah ist. Das Gewitter befindet sich genau über uns.
    »Ich laufe ihr nach«, murmelt Frazer Melville und öffnet die Tür, worauf erneutes Hupen ertönt. Ich schalte den Warnblinker ein. Ein junger Mann verflucht mich auf Urdu, bevor er Gas gibt und im Gewitter verschwindet. Ich bin hilflos ohne Rollstuhl. Von dort, wo ich sitze, kann ich nicht einmal die hintere Tür schließen. Die nasse Luft stinkt wie verdorbener Eintopf. Zu meiner Linken kann ich gerade noch Bethanys winzige schwarze Silhouette erkennen. Frazer Melville rennt hinter ihr her. Sie sind in eine mit Platanen bestandene Seitenstraße eingebogen, in der drei kleine Kinder im Wolkenbruch spielen. Ein blonder Mann, vielleicht ihr Vater, repariert im Carport sein Auto. Er richtet sich auf und |342| betrachtet das stoppelköpfige Goth-Teenie-Mädchen, das rasend schnell an ihm vorbeiläuft, gefolgt von einem großen Mann in Hemdsärmeln, der bis auf die Haut durchweicht ist und wie ein Irrer brüllt.
    Dann sehe ich, wohin Bethany will. Es liegt eine furchtbare Logik darin.
    Auf einem verwilderten Grundstück neben der Straße steht ein Strommast, so hoch wie ein achtstöckiges Gebäude.
    Ich lasse das Fenster herunter und drücke die Hupe, bis sich der blonde Mann zu mir umdreht. Er ist etwa Mitte dreißig und trägt ein ölfleckiges Kapuzensweatshirt. Oben quillt Brusthaar heraus. »Kommen Sie bitte her, Sie müssen mir helfen!«, schreie ich gegen den tosenden Wind an. Er schaut vorwurfsvoll von mir zu Bethany und Frazer Melville, die den Mast fast erreicht haben, dann brüllt er die Kinder in einer slawisch klingenden Sprache an. Sie beachten ihn nicht. Er brüllt noch einmal, brutaler, und sie stürzen ins Haus. Wieder reißt ein Blitz den Himmel in der Mitte durch. Ich versuche ihm mit Gesten zu zeigen, dass ich mich nicht bewegen kann. Schließlich trabt er zögernd und mit gesenktem Kopf durch den Regen zu mir herüber. Der nächste Donner hallt so heftig, als würde Geschirr zerschlagen.
    »Haben Sie ein Problem?«
    »Mein Rollstuhl ist im Kofferraum! Ich kann nicht gehen! Ich brauche Ihre Hilfe!« Er kommt näher und betrachtet meine Beine mit unverhohlener Skepsis. »Ich bin gelähmt. Ich kann meine Beine nicht gebrauchen. Ansonsten würde ich Sie wohl kaum um Hilfe bitten!« Er trägt ein Kruzifix um den Hals. Seine Augen sind hell und argwöhnisch. »Unsere Tochter hatte eben einen Ausraster. Sie ist drogenabhängig. Wir wollen sie zurück in die Reha bringen. Wir dachten, sie sei clean, aber sie hat irgendwas genommen. Jetzt will sie sich umbringen.« Er wirkt immer noch misstrauisch. »Sie steht unter Drogen, verstehen Sie? Wir hätten beinahe einen Unfall gehabt!« Der Regen klatscht mir ins Gesicht, auf die Arme, auf den Schoß.
    |343| »Das hier ist eine ruhige Gegend«, erwidert er. Der Akzent ist russisch. »Rufen Sie die Polizei. Die werden sich darum kümmern.«
    Sein Sweatshirt ist durchweicht und lässt die Muskeln darunter erkennen, die nicht aus einem Fitnessstudio stammen, sondern von der Arbeit auf dem Feld oder in einer Fabrik. Diese Muskeln brauche ich dringend. Ein Blitz beleuchtet sein Gesicht, als hätte jemand ein Foto gemacht. Dann folgt der Donner. Es klingt, als zerreiße jemand eine Leinwand.
    »Wir haben keine Zeit! Bitte steigen Sie ein und fahren Sie mich. Wir müssen sie aufhalten. Sie ist gewalttätig.« Der Russe klappt entschlossen den Mund zu. Ich spüre, wie müde und hungrig ich bin. Und wie wütend. »Machen Sie schon!«, schreie ich in sein dämliches, stures Gesicht.
    »Hey, immer mit der Ruhe, Lady!«
    »Meine Tochter will auf den Strommast da drüben

Weitere Kostenlose Bücher