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Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Jensen
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würde ich uns ans Ufer eines Flusses versetzen. Ja, an den Severn in der Nähe von Bristol. Im Frühsommer. Dort gäbe es Libellen, Kajaks |339| und lange, träge dahintreibende Wasserpflanzen. Die Wiese hinter uns wäre mit Mohnblumen, Bergastern und Butterblumen getupft. Vielleicht ist die Telepathie zwischen uns so stark, dass unausgesprochene Dinge unausgesprochen bleiben können.
    »Sag irgendeinen Fluss, der dir in den Sinn kommt.«
    Er lächelt angespannt. »Der Nil.«
    Falsche Antwort. Das heißt, wir sterben.
»Was hast du gegen den Severn?«
    »Gar nichts. Aber ich habe an den Nil gedacht. Jetzt bin ich dran mit Albernsein. Nenn mir einen See.«
    »Titicaca.«
    »Nein. Lake Powell. Im Grenzgebiet von Utah und Arizona, falls du das noch nicht wusstest.«
    Ich wusste es nicht. Ich habe noch nie vom Lake Powell gehört.
Das war’s. Wir werden mit Sicherheit sterben.
»Es kann doch nicht das erste Mal sein, dass die Menschen glauben, der Weltuntergang stünde bevor.« Meine Stimme klingt künstlich und piepsig. »Denk doch nur an Karthago. Die Pest. Das Erdbeben von Lissabon siebzehnhundertsoundsoviel. Hiroshima.«
    »Die Sintflut. Die Geburt der Überlebenskunst und eine praktische Lektion über die Vorteile weitsichtiger Planung.« Auch seine Stimme klingt künstlich und piepsig. Er spielt mein Spiel mit. Ist das gut oder schlecht? »Isaac Newton glaubte, die Welt werde im Jahre 2060 enden. Aber wenn die Leute von der Welt sprechen, meinen sie
unsere
Welt.« Ja, er konzentriert sich darauf, normal zu klingen. Und scheitert, genau wie ich. »Die Welt, wie wir sie kennen. Geologisch gesehen ist das
business as usual
. Eine Ära findet ein abruptes Ende, die Biosphäre erleidet einen schweren Schlag, und dann beginnt eine neue Ära.«
    »Die Regentschaft des Antichristen«, rülpst Bethany vom Rücksitz. »Die Herrschaft des Tieres.«
    Das Unwetter beginnt mit einzelnen Regentropfen auf der Windschutzscheibe und einer Welle kalter Luft, darin der finstere, organische Gestank von Enzymen, die Proteine zersetzen, von |340| Fischinnereien, von Kelp, Schlamm und Blasentang. Zinngraue Wolken rollen vom Horizont heran. Das Meer ist ruhelos und kabbelig, und in der Ferne durchzuckt ein weißlich-gelber Blitz den Himmel, vor dem sich Antennen, Telegrafenstangen und die geisterhaften Skelette der Bäume abzeichnen. Sekunden später gurgelt der Donner. Wir befinden uns in einem nördlichen Vorort von Felixstowe, in dem die Platanen zu arthritischen Fäusten gestutzt wurden. Wir sind noch immer über hundert Kilometer von London entfernt. Der Regen prasselt gegen die Scheibe und rinnt schräg zur Seite weg. Bethany öffnet ihr Fenster und streckt den Kopf in die gesättigte, stinkende Luft, die sich wie ein Lebewesen ins Wageninnere wälzt.
    »Ich kann den Strom spüren!«, ruft sie. Dann schreit sie zum Himmel: »Hey, mehr davon!«
    »Mach das Fenster zu!«, brüllt Frazer Melville. Bethany beachtet ihn nicht und fängt an, sich auf dem Rücksitz hin und her zu wiegen, summt laut mit offenem Mund wie ein Baby, das seine Stimme ausprobiert.
    »Gewitter regen sie auf.« Ich erinnere mich an Oxsmith. »Wir müssen irgendwo parken und sie beruhigen.«
    Der Gestank ist so intensiv, dass ich ihn auf der Zunge schmecke. Bethanys Augen glitzern dunkel, als betrachte sie eine gefährliche Bühnenshow hinter einem unsichtbaren Vorhang. Sie beugt sich aus dem Fenster und schreit in den peitschenden Regen: »Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind! Und es kam Elektrizität! Danach werden wir, die wir leben und übrig bleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden auf den Wolken in die Luft, dem Herrn entgegen!«
    »Bethany, mach das Fenster zu, ich muss Auto fahren!«, zischt Frazer Melville. Schweiß rinnt ihm übers Gesicht in den Kragen. Ich schaue zu Bethany. Sie kämpft mit dem Verschluss des Sicherheitsgurtes.
    »Fahr ran. Bethany, alles in Ordnung. Alles wird gut«, sage ich.
    Aber für sie wird nichts gut. Diese Chance hat sie nie gehabt. |341| Sie löst den Gurt und schleudert ihn beiseite. Dann stößt sie mit einem ekstatischen Schrei die Tür auf und stürzt sich hinaus.
    Frazer Melville reißt das Steuer herum. Der Wagen schwenkt nach links und bleibt halb auf der Straße, halb auf dem Gehweg stehen. Mein Mund ist weit geöffnet, ich muss wohl geschrien haben. Durch die Hintertür peitscht der Regen herein und färbt die Sitze dunkel. Die anderen Autofahrer hupen wütend, weil sie

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