Endzeit
eine gute Idee, zu fliehen, bevor der Verkehr zusammenbricht. Sie werden es nicht bereuen.«
»Dann haben Sie einen Vorsprung«, bestätigt Frazer Melville und lässt den Motor an. »Fahren Sie mit Ihrer Familie ins Landesinnere. Suchen Sie sich den höchsten Punkt, den Sie finden können. Oder falls Sie jemanden kennen, der ein Boot besitzt …«
Dem Russen stehen tausend Fragen ins Gesicht geschrieben, aber wir haben keine Zeit, sie zu beantworten. Frazer Melville legt den ersten Gang ein, reißt das Steuer herum und schießt auf die Straße hinaus.
|346| Bethany bleibt trotzig, was ihren Fluchtversuch angeht. Sie habe eben Strom gebraucht, sagt sie. Es würde schon mehr als einen Hochspannungsmast brauchen, um sie zu töten. Schon die Luft hat sie ein bisschen high gemacht. Um den Kratzer an ihrer Stirn entwickelt sich ein gelblicher Fleck. Im Handschuhfach finde ich ein Erste-Hilfe-Set. Nachdem ich den tiefen Kratzer auf Frazer Melvilles Wange versorgt habe, überrede ich Bethany, sich nach vorn zu beugen, während ich mich unbeholfen herumdrehe. Ich entferne das verbliebene Make-up, reinige die Wunde etwas energischer als nötig und trage ein Desinfektionsmittel auf. Ihre Handgelenke sind noch immer mit dem Schal meiner Mutter gefesselt, und wir werden sie auch so schnell nicht losmachen.
Als wir London erreichen, ist das Gewitter in einen leichten Regen übergegangen. Die Lagerhäuser und Bürogebäude sind in schwaches Licht getaucht, brüchig wie Stanniol. Als hätte die Sonne ihr neue Kraft verliehen, wird Bethanys bis dahin tonloses Summen lauter, und wir kommen in den wiederholten Genuss einer Hymne über die »Liebe des Lammes«, bis ich das Lamm am liebsten mit bloßen Händen erwürgen würde. Frazer Melville, der nach der Episode mit dem Hochspannungsmast noch immer vor Wut kocht, befiehlt ihr, damit aufzuhören, doch sie ist so schwer erreichbar wie eine ferne Galaxie. Sie lacht und stürzt sich in die nächste Hymne. In dieser geht es um die »Kraft, die im Blut liegt«.
»Sag mir noch mal, weshalb wir sie eigentlich mitgenommen haben«, murmele ich. Wir sind noch immer mindestens vierzig Kilometer vom Stadion entfernt.
»Wegen irgendwelcher albernen moralischen Erwägungen. Bereust du es?« Er sieht auf die Uhr. »Zwei. Schalt mal die Nachrichten ein. Die Geschichte müsste jetzt draußen sein.«
Ich schalte BBC ein, wo gerade die Erkennungsmelodie der Nachrichten läuft. Als sich der kleine Bildschirm mit einer Luftaufnahme von Buried Hope füllt, schlägt Frazer Melville triumphierend aufs Lenkrad.
Wissenschaftler warnen vor einer Katastrophe
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in der Nordsee, die Europa treffen könnte.
Das Bild wechselt zur Pressekonferenz, wo Harish Modak, Ned Rappaport und Kristin Jonsdottir auf einem Podest in einem Saal voller Journalisten sitzen.
Sie sprechen von einer globalen Krise ungeheuren Ausmaßes …
Nun, da die Nachricht in der Welt ist, durchflutet mich die Erleichterung wie eine willkommene Dosis Morphium. Bethany singt scheinbar gleichgültig weiter. Ich stelle den Fernseher lauter.
Vor Kurzem hat der führende Umweltexperte Harish Modak vor einem bereits im Entstehen begriffenen Tsunami in der Nordsee gewarnt, der Nordeuropa zerstören und einen großen Teil von Großbritannien überfluten könnte. Auslöser sei ein Unfall auf der methanfördernden Bohrinsel Buried Hope Alpha.
»Wärest du frei von Leidenschaft und Stolz?«, grölt Bethany. »Die Kraft liegt im Blut, die Kraft liegt im Blut. Komm zur Reinigung auf den Kalvarienberg, es liegt wunderbare Kraft im Blut!«
Professor Modak, dessen Team die Verantwortung für die Graffiti in Grönland übernommen hat, die die von Traxorac betriebene Bohrinsel in den Blickpunkt gerückt haben, erklärt, dass eine Reihe gewaltiger unterseeischer Lawinen …
Bethany hält abrupt inne und verkündet: »Mein Kopf tut weh.« Im Fernsehen erscheint eine weitere Ansicht von Buried Hope Alpha. Der gelbe Kran ist in einem Winkel von fünfundvierzig Grad geneigt.
Während die North Sea Alliance die Behauptungen des Professors entschieden zurückgewiesen hat, haben ungewöhnliche Vorgänge im Meer Spekulationen ausgelöst …
Eine Karte der Nordsee wird eingeblendet, auf der Pfeile die Massenbewegungen der Meerestiere nachzeichnen. Harish Modak, Kristin und Ned erscheinen wieder vor einer Karte des Meeresbodens. Daneben sieht man Graphen, vermutlich die seismischen Aufzeichnungen der Bohrinsel. Unsere Freunde aus dem Bauernhaus in Norfolk
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