Endzeit
haben sich in Schale geworfen. Im Anzug ist Ned kaum wiederzuerkennen. Er hat sich rasiert und die üppigen Locken zu einem Kurzhaarschnitt Marke Geschäftsmann gestutzt. Kristin trägt eine elegante Hochsteckfrisur, eine dunkelgrüne Jacke und ein |348| cremeweißes T-Shirt , während Harish Modak scharf, hellwach und weniger zerbrechlich als im wirklichen Leben wirkt. Sollte Kristin nervös sein, lässt sie es sich nicht anmerken und erklärt anhand von Zeichnungen, Landkarten und Diagrammen die wissenschaftliche Seite. Sie trägt ihren Fall klar und schlüssig vor. Frazer Melvilles Hände schließen sich mit neuer Kraft ums Lenkrad. Dann ist Ned an der Reihe. Auch er hat sich ausgezeichnet vorbereitet.
»Praktisch gesehen bedeutet es, dass Sie sofort aufbrechen sollten, falls Sie weniger als zehn Kilometer von der Küste entfernt wohnen. Packen Sie Essen und Verbandszeug ein und fahren Sie in höheres Gelände«, schließt er. »Wir müssen mit einem Domino-Effekt rechnen.«
Falls die britische Öffentlichkeit in etwa so reagiert, wie ich es in meinem früheren Leben getan hätte, wird die Warnung zunächst auf taube Ohren stoßen. Die Leute werden es verdrängen oder sich um banale Dinge wie Zahnpasta und Hundefutter sorgen. Als Harish das Wort ergreift, spricht er mit dem Bedauern eines Erwachsenen, der ein Kind enttäuschen muss. »Das vernichtendste Resultat der bevorstehenden Katastrophe wird eine plötzliche globale Erwärmung sein, bei der die Durchschnittstemperaturen um vier Grad oder mehr steigen. Dies ist in der fernen Vergangenheit zweimal vorgekommen. Nun haben wir allen Grund zu der Annahme, dass es erneut geschehen wird. Wir befürchten, dass dieser Zustand in diesem Teil der Welt innerhalb weniger Stunden eintreten wird.«
Ich denke an meinen Vater im Pflegeheim. Wie schnell zerbröckeln Kreideklippen, wenn eine Wasserwand mit der Geschwindigkeit eines Jumbojets auf sie trifft? Wie lange dauert es, bis sich die Lungen eines alten Mannes mit Flüssigkeit gefüllt haben?
Harish Modak spricht wieder und muss ein Gewirr erregter Stimmen übertönen.
»Viele werden uns nicht glauben. Sie müssen selbst entscheiden. Aber meine Kollegen und ich meinen, dass die Menschen das |349| Recht haben, es zu erfahren. Nun sind alle gewarnt und können selbst entscheiden, was sie tun. Ich wünsche ihnen viel Glück.«
Die Nachrichtensprecherin wird vor den laufenden Bildern der Pressekonferenz eingeblendet, auf der die Journalisten die drei Wissenschaftler weiterhin mit Fragen bombardieren.
Traxorac hat Professor Modaks Behauptungen entschieden zurückgewiesen und bestritten, dass es ungewöhnliche Aktivitäten unter Buried Hope Alpha gegeben habe. Die Regierung hat die Warnung als vollkommen unbegründet verurteilt und erklärt, dass die Beweise nicht stichhaltig seien. Man solle keine Massenpanik erzeugen. Doch während der wissenschaftliche Chefberater der Regierung noch keine Stellungnahme abgegeben hat, befürworten führende Wissenschaftler wie Kaspar Blatt, Akira Kamochi, Walid Habibi und Vance Ozek, die die Unterlagen von Traxorac geprüft haben, eine Massenevakuierung. Sie erklären, das ungewöhnliche Verhalten der Meerestiere, vor allem vor der norwegischen Küste, sei ein weiterer Beleg dafür, dass die Instabilität des Meeresbodens bald ein kritisches Maß erreichen könnte.
Auf dem Rücksitz schaut Bethany, erschöpft von ihrem kopfschmerzerzeugenden Gesang, ausdruckslos aus dem Fenster. Vor uns breiten sich die unregelmäßigen Umrisse der Londoner Vorstädte aus. Eine Sekunde später fallen ihr die Augen zu.
Auf dem Satellitenfoto, das wir uns im Bauernhaus angeschaut haben, besaß der Südosten Englands – die Buckel von Norfolk und Suffolk, die grau-braunen Flecken der Ballungsgebiete, die wie herausgemeißelten Straßen, der geschlängelte Darm der Themse – etwas Traumartiges, dessen Auslöschung vielleicht jemand als hypothetisches Szenario auf dem Bildschirm bewerkstelligen könnte, wenn er mit der nötigen Software und einem starken Zerstörungstrieb ausgestattet wäre. Doch hier am Boden, wo die Sonne die Luft schimmern lässt wie glasiert, inmitten der Hochhäuser, der Discounter mit den abblätternden Fassaden und der emporragenden Kräne, springt die Obszönität einer solchen Katastrophe geradezu ins Auge. Ich sehe sie in Technicolor: die |350| gepeitschten Bäume, weinenden Kinder, verbogenen Straßenschilder und die Leichen, die wie geschwollene Knollen auf dem Wasser tanzen.
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