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Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Jensen
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berechnen will: Wir können nur mit den Parametern arbeiten, die wir bereits kennen. Aber Rio de Janeiro halte ich für äußerst unwahrscheinlich. Das ist im Südatlantik, Hurrikans entstehen gewöhnlich weiter nördlich. Den ersten dort gab es 2002.   Hat viele von uns überrascht. Es könnte aber auch der Beginn einer neuen Entwicklung sein.«
    »Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie recht hat?«
    |87| Sein Blick verändert sich, und ich sehe geradezu, wie er den Rechner in seinem Gehirn anwirft. »So aus dem Stegreif? Tausend zu eins.« Er lächelt. »Ich würde gern um unser nächstes Essen wetten.« Er beißt knirschend in sein Papadam.
    Unwillkürlich lächle ich zurück. Anscheinend bin ich es nicht mehr gewöhnt, denn die Muskeln um meinen Mund tun weh. Sollte ich diesen Abend etwa doch genießen? Ich lasse mich auf die Wette ein, bestehe aber darauf, dass ich heute Abend zahle, weil ich Geburtstag habe. Na bitte. Jetzt ist es raus. Erfreut bestellt er Champagner und besteht darauf, dass der auf seine Rechnung geht. Zu unserer Überraschung hat das »Delhi Dreams« welchen im Angebot, der, noch überraschender, richtig temperiert ist. Falls er es für sonderbar hält, dass ich an meinem Geburtstag nichts Besseres zu tun habe, als mit einem Physiker zu essen, den ich auf einer Veranstaltung kennengelernt habe, für die ich mir bei meinem gesellschaftlich arrivierten Boss eine Einladung erschleichen musste, erwähnt er es nicht: Es sei ihm eine Ehre, und er hebt das Glas, um einen weitschweifigen Trinkspruch auszubringen, in dem er mein »herrliches Kleid und dessen Inhalt« lobt, zu Kind B. übergeht und die Launen von Hoch- und Tiefdruck erwähnt, die uns »in diesem bemerkenswerten Augenblick des 21.   Jahrhunderts« zusammengeführt haben.
    Frazer Melville, der vierundvierzig ist, seine Mutter vor zwei Monaten durch Krebs verloren hat und von einer griechischen Geologin namens Melina geschieden ist, isst genauso, wie er bestellt – eifrig, gierig, unbefangen und seines eigenen Geschmacks gewiss. Melina habe keine Kinder bekommen können. Die Ehe sei allerdings nicht daran gescheitert. Die Sache war komplizierter. »Und ziemlich demütigend für mich«, gesteht er. »Es hat mich ganz schön umgehauen.« Ich nicke und warte, dass er weiterspricht. »Unüberbrückbare Differenzen, wie man so schön sagt. Es war hart, aber jetzt, da sie wieder in Athen lebt, verstehen wir uns ganz gut. Wir haben Berührungspunkte und laufen einander bei der Arbeit gelegentlich über den Weg. Schicken uns die eine |88| oder andere E-Mail , in denen es um Unterwasser-Erdrutsche oder Ähnliches geht.«
    »Haben Sie als Junge Feuerwerkskörper gebastelt?«
    »Nur die ganz einfachen mit Diät-Cola und Menthol. Ich war kein sonderlich begabter Pyromane. Ich habe literweise Wachs über offenem Feuer geschmolzen und zahllose Mandarinen in die Luft gejagt. Eine ganz normale Kindheit für einen späteren Physiker. So, jetzt bin ich dran. Gabrielle als Kind. Hm. Sie waren eine Mini-Ausgabe der heutigen Frau. Sie waren klug und insgeheim sehr stolz auf Ihr erstaunliches Haar. Sie waren mitfühlend, was Sie bisweilen in Schwierigkeiten gebracht hat. Aber Sie waren damals noch nicht so zornig. Und noch nicht so schön.«
    Das Problem beim Rotwerden ist, dass man es nicht steuern kann. Der Champagner trinkt sich gut. Nach zwei Gläsern bin ich ein bisschen beschwipst und fange an, Witze zu erzählen. Höhepunkt ist der mit dem Glaubensheiler. Ich erkenne mich selbst kaum wieder.
    Zu Hause frage ich mich dann, ob ich Menschen überhaupt noch gern haben kann. Ich habe es nie richtig ausprobiert. In der Hotelküche habe ich ihn den Rollstuhl schieben lassen, und zwar nicht nur, weil ich mein Kleid vor den Saucen irgendwelcher durchgedrehten Köche schützen wollte. Nach der heiklen Etikette der Rollstuhlfahrer habe ich eine intime Geste zugelassen.
     
    Einige Tage später träume ich wieder von meiner Wirbelsäule. Ich operiere meinen unteren Rücken mit einer Zange und einem Universalschlüssel. »Na bitte«, sage ich zu den Krankenschwestern und Medizinstudenten, die im Halbkreis um mich herumstehen und zuschauen. »Was ich kann, können Sie auch.« Ich deute auf das Diagramm der Wirbelsäule, an dem man mir zum ersten Mal meine Verletzungen erläutert hat. Es sieht aus wie ein Bonsai. Eine Alarmglocke schrillt. Ich muss die Operation beenden, weil sie die Zange brauchen. Und den Universalschlüssel.
    In Wirklichkeit ist es das

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