Endzeit
Rock glatt. »Ich war neugierig«, sage ich |185| leise. Weiter kann ich mich der Wahrheit nicht nähern. Mit einer ausführlicheren Antwort – dass ich gehofft hatte, in der religiösen Überzeugung des Vaters einen Schlüssel zu den Visionen der Tochter zu finden – würde ich mich noch tiefer hineinreiten. »Ist es ein Verbrechen, wenn man neugierig auf seine Patienten ist?«
»Sie waren neugierig«, wiederholt er ruhig.
»Neugierig.«
Er stößt einen zornigen Seufzer aus. »Nun, ich bin auch
neugierig
, Gabrielle. Und da ich neugierig bin – in diesem Fall auf Sie –, habe ich in London angerufen und mit Ihren früheren Arbeitgebern in Hammersmith gesprochen. Dort erfuhr ich, dass Dr. Omar Sulieman, der Ihnen ein so glanzvolles Zeugnis ausgestellt hat, als Sie sich um diese Stelle bewarben, leider
verstorben
ist. Daher konnte ich nicht das Gespräch führen, das ich gern geführt hätte. Allerdings habe ich mit seinem Nachfolger, Dr. Wyndham, gesprochen. Er kennt Sie nicht persönlich, hat aber auf mein Ersuchen in Ihrer Akte nachgeschaut.« Ich hole Luft, sage aber nichts. Es hat keinen Zweck. Auf dem Fensterbrett lässt sich eine Möwe nieder und beobachtet uns mit schief gelegtem Kopf, bevor sie davonfliegt, ein weißes Aufblitzen. »Wie es aussieht, waren alle anderen Mitglieder des Bewertungsausschusses dagegen, Ihnen Ihre alte Stelle wiederzugeben, weil Sie nach dem Unfall und Ihrem persönlichen Verlust noch nicht wieder in der Lage gewesen seien, zu arbeiten. Man kam zu dem Schluss, psychologisch seien Sie den Anforderungen einer so anspruchsvollen Tätigkeit noch nicht gewachsen, und empfahl daher weitere sechs Monate Genesungsurlaub. Dr. Sulieman hat sich über diese Entscheidung hinweggesetzt und Ihre Bewerbung für die befristete Stelle hier in Oxsmith unterstützt.«
Schweigen. Zeit zum Nachdenken. Er sieht mich erwartungsvoll an. Die Uhr an der Wand zeigt achtzehn Minuten nach zehn. Während die Sekunden vor meinen Augen verticken, läuft mein Verstand auf Hochtouren. Geld, oder der Mangel an Geld, wird zur konkreten Bedrohung. Laut meinem Anwalt ist noch lange nicht mit dem Geld von der Versicherung zu rechnen. Habe ich |186| mich durch eine einzige Fehlentscheidung arbeitslos gemacht? Um neunzehn Minuten nach zehn sage ich, noch immer unter seinem wachsamen Blick: »Ich werde mein Büro räumen und Sie von meiner Anwesenheit befreien.«
Sheldon-Gray wirkt eher entsetzt als erleichtert. »Laut Ihrem Vertrag haben Sie noch einen Monat. Sie sollten nur dankbar sein, dass ich keine sofortigen Disziplinarmaßnahmen einleite.«
»Das sind sehr schwerwiegende Anschuldigungen«, sage ich, als ich einen Vorteil wittere. »Therapeuten, die gegen ihr Berufsethos verstoßen, sind eine Belastung für jede Einrichtung. Sie möchten mich doch sicher offiziell rügen?« Er fummelt an seinen Manschetten herum. Ich bohre weiter. »Außer vielleicht, es herrscht Personalmangel, nachdem Dr. Ehmet gegangen ist. Und wie ich hörte, ist es generell schwierig, Mitarbeiter für Oxsmith zu finden …«
»Sie haben noch vier Wochen«, sagt er brüsk. Nachdem die Manschetten in Ordnung gebracht sind, erfordern die Papiere auf dem Schreibtisch seine unmittelbare Aufmerksamkeit. »Fragen Sie mich bitte nicht nach einem Zeugnis. Ich kann Ihnen versichern, diesmal gibt es keinen Mitleidsfaktor.« Damit bin ich entlassen. Ich drehe mich um. »Übrigens«, ruft er mir nach, »der Kontakt mit Bethany Krall ist Ihnen untersagt.«
Ich fahre zu Frazer Melville nach Hause, neben mir auf dem Beifahrersitz ein dampfendes Paket aus dem indischen Restaurant. Ich bin selten bei ihm. Sein gemietetes Reihenhaus in der Nähe des Hafens ist nicht rollstuhlgerecht. Die Wände sind mit riesigen ramponierten Landkarten, von ihm aufgenommenen botanischen Schwarz-Weiß-Fotos und dramatischen Naturbildern tapeziert: Sonnenuntergänge, Flüsse aus geschmolzener Lava, Wasserfälle. Wie in seinem Büro herrscht auch hier ein gelehrtes Durcheinander: das Chaos eines kreativen und wissbegierigen Menschen, der auf Hilfe im Haushalt verzichtet. Er ist blass und einsilbig. Wir stochern in unserem Essen herum, benutzen keine Teller, reden |187| kaum. Ich wage nicht, die Frage zu stellen, weil ich die Antwort von seinem Gesicht ablesen kann.
»Ich habe die Antworten ausgedruckt«, sagt er schließlich. »Die wenigen, die ich bekommen habe.« Er deutet mit dem Kopf auf den Beistelltisch.
Ich rolle hinüber und werfe einen
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