Endzeit
Blick darauf. Er hat sieben verschiedene E-Mails ausgedruckt.
Lieber Frazer,
beginnt die erste.
Ich habe deine E-Mail mit großer Belustigung gelesen und an Judy weitergegeben, weil sie immer behauptet, wir Naturwissenschaftler seien ein humorloser Haufen. Das ist wirklich klasse!! Jedenfalls freue ich mich darauf, noch mehr von deinem mysteriösen Orakel zu hören, und werde mir die Tage im Kalender anstreichen.
Alles Gute, Cees
P. S. Da du schon danach fragst, schätze ich die Chance, dass ein Zyklon Mumbai an diesem Datum trifft, auf 5380 zu 1.
Die zweite:
Sehr geehrter Dr. Melville, ich möchte Ihnen mein tief empfundenes Beileid zum Tod Ihrer Mutter aussprechen. Ich hörte davon, als ich heute Morgen in Ihrem Büro anrief. Wir alle hier möchten Ihnen in dieser schwierigen Zeit unser Mitgefühl aussprechen und hoffen, dass Sie sich bald wieder besser fühlen. Gestatten Sie mir eine persönliche Erinnerung an die Zeit, nachdem mein Vater gestorben war. Damals war ich tief erschüttert und noch einige Monate später nicht ich selbst …
Die dritte:
Mein lieber, lieber Frazer,
viele Grüße aus der Arktis! Falls du diese »Vorhersagen« tatsächlich
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als echte Wissenschaft betrachtest (was ich dem Ton deiner Mail nach befürchte), begehst du einen gewaltigen beruflichen Fehler, ob deine »Quelle« nun recht hat oder nicht. Als deine Freundin wie auch als deine Ex-Frau werde ich jetzt das für dich tun, was du hoffentlich auch für mich tun würdest. Ich rate dir, lieber Frazer, dies nicht weiterzuverfolgen. Du genießt auf deinem Fachgebiet einen exzellenten Ruf. Ich weiß, wie hart du gearbeitet hast, um dir einen Namen zu machen, und daher hoffe ich, dass dir selbst schon Zweifel gekommen sind. Ich verspreche dir jedenfalls feierlich, dass ich dies nicht weitergeben werde. Ich bin mir sicher, dass der Tod deiner Mutter eine große Belastung für dich ist …
»Am schlimmsten sind die, die gar nicht geantwortet haben«, sagt Frazer Melville schlicht. »Ich weiß nämlich, was sie denken und untereinander reden. Sie tanzen vor Schadenfreude Polka.«
»Du bereust es.«
»Nein. Ja. Nicht, solange Bethany recht hat. Falls sie sich aber irrt, schon. Dann müsste ich auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren. Immerhin habe ich eine Seelenklempnerin, die mich wieder herrichten kann.«
»Eine Kunsttherapeutin.«
Er lächelt kläglich. »In der Not frisst der Teufel Fliegen.«
Doch schon wenige Tage später ruft er mich triumphierend an. »Sie hatte für den 5. eine schwere Überflutung in Bangladesch vorhergesagt, und die ist eingetreten. Jetzt gerade zieht ein Zyklon in Richtung Mumbai und wird morgen dort eintreffen. 13. September. Genau wie es in ihrem Notizbuch steht. Sie hat es vor über einem Monat vorhergesagt. Vielleicht ist es sogar noch länger her. Das kann kein Meteorologe.«
»Fühlst du dich jetzt rehabilitiert?«
»Du nicht?«
»Nein«, entscheide ich. Ich muss an Bethany denken, wie sie |189| ihr grünes Kaugummi kaut und die Faust in die Luft stößt, als hätte sie einen Preis gewonnen. »Ich fühle mich nur schlecht. Und irgendwie … verantwortlich.«
»Ich kontaktiere jetzt Kollegen wegen Hongkong und Samoa. Allerdings mache ich mir keine Hoffnungen. Die Leute halten mich entweder für verrückt oder sind neidisch, weil sie vermuten, ich hätte eine neuartige Maschine entwickelt, die frühe Warnsignale auffängt.«
Einige Tage, nachdem der Zyklon in Mumbai schlimmste Verwüstungen angerichtet und über dreihundert Menschen getötet hat, fahre ich zu Frazer Melville nach Hause.
Er öffnet mir schweigend die Tür. Er hat abgenommen, seine Kleidung hängt locker an ihm herunter. Er beugt sich nicht zu mir herunter, um mich zu küssen, und es gibt auch sonst keine Berührung als Willkommensgruß. Ich spüre, dass er sich von mir zurückzieht, vielleicht sogar etwas Entscheidendes für sich behält. Er hat BBC World eingeschaltet. Wie ich bereits in den Nachrichten hörte, steht ein großer Teil von Hongkong in Flammen. Eine Gasexplosion hat ein Hochhaus zum Einsturz gebracht und achtzig Menschen getötet. Außerdem starben Hunderte, als ein Blitz in die Bootssiedlungen einschlug und die daraus erwachsende Feuerwand, angefacht von tropischen Winden, auf das knochentrockene Waldgebiet des Peak District übergriff. Dort ist es Abend, und aus der Luft leuchtet Hongkong als orangefarbener Fleck im südchinesischen Meer. Jenseits des
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