Endzeit
in der Diele trage ich die erste Schicht auf und prüfe, ob kein Lippenstift an meinen Zähnen haftet. Wenn ich den Verdacht äußere, dass Frazer Melville an der Sache beteiligt sein könnte, bleibt mir nur der leere Triumph, meinen Ex-Geliebten hinter Gitter gebracht zu haben. Wie aber würde sich das auf Bethanys Schicksal und das der von Methangas bedrohten Welt auswirken? Ich trage eine zweite Schicht auf.
»Sind Sie fertig, Madam?«
Fünf Minuten sind niemals fünf Minuten.
Und weniger als fünf Minuten – ich tippe auf zwei – sind nicht viel, wenn man eine lebenswichtige Entscheidung treffen muss.
Aber es reicht.
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Es gibt Menschen, die relativ jung sind, aber das Weltwissen eines Neunzigjährigen verströmen, ohne dass irgendwas, was die Welt zu bieten hat, sie je bezaubern oder zu Tränen rühren könnte. Detective Trevor Kavanagh, Mitte dreißig, sitzt mit gespreizten Beinen da, weil seine dicken Oberschenkel es so wollen. Ich unterstütze die Polizei bei ihren Ermittlungen in einem kahlen Raum mit einem winzigen Digitalrecorder, der unser Gespräch für die juristisch interessierte Nachwelt aufzeichnet.
Das Lokalradio berichte schon den ganzen Morgen über Bethanys Entführung. Ob ich davon gehört hätte? Nein, anders als bei meiner Vermieterin läuft bei mir weder Sunshine FM noch BBC Southern Counties rund um die Uhr. In diesem Fall wird Detective Kavanagh die Sache für mich zusammenfassen. Ein öffentlich als Kind B. bekanntes junges Mädchen, eine psychotische Minderjährige, wurde für einen Zeitraum von vier Minuten im Krankenhaus unbewacht gelassen. Das Systemversagen, das dazu führte, wird »separat analysiert«. In diesem entscheidenden Zeitraum ist auf den Aufnahmen der Überwachungskamera eine Gestalt zu sehen – vermutlich männlich, Alter unklar –, die einen grünen Chirurgenkittel und eine Gesichtsmaske trägt und Bethany Krall befreit. Dass Bethany das Krankenhaus ohne jeden Widerstand mit diesem »Individuum« verlassen hat, ist entweder auf Einverständnis zurückzuführen oder aber – ob ich das bitte kommentieren würde? – ein Symptom ihres fehlenden psychischen Gleichgewichts. Kavanagh verzichtet auf den Hinweis, dass ich als Bethanys letzte Therapeutin unwiderruflich in dieses Durcheinander verstrickt bin. Doch der Gedanke steht im Raum.
|230| Detective Kavanaghs Hände auf der Tischplatte sind kräftig und sauber wie die eines orthopädischen Chirurgen. Man würde ihnen sein Leben anvertrauen. Er erklärt, es habe keinerlei Anzeichen eines Kampfes gegeben. Dies lege die Vermutung nahe, dass Bethany ihren Entführer gekannt habe.
»Dürfte ich fragen, wie lange Sie, hm, an den …« Er deutet mit dem Kopf darauf. Ich rolle einen Millimeter nach hinten.
»Ein Jahr, zehn Monate und drei Tage. Und es ist dauerhaft. Ich kann nicht gehen, falls Sie darauf hinauswollen. Und falls Sie wissen möchten, wo ich gestern Abend war – ich habe kein Alibi. Jedenfalls keines, das einer Prüfung standhält. Ich war allein zu Hause. Nur ich und mein kleiner Freund aus Titan.« Ich tätschle ein Rad.
Der Kriminalbeamte erzählt mir, dass auf der Besucherliste von Oxsmith der Name Dr. Frazer Melville auftaucht. Er habe sich sehr kurzfristig bei der Arbeit beurlauben lassen. Wie sei unsere Beziehung beschaffen, worin bestehe sein Interesse an Bethany, und wo sei er jetzt?
»Wir sind eher Bekannte als enge Freunde. Soweit ich weiß, ist er beruflich unterwegs.«
»Er ist in der Tat ins Ausland gefahren«, sagt Kavanagh. Es klingt wie eine Ansage beim Poker. Daher setze ich mein Pokerface auf und erlaube mir keine Regung. »Dieser Zufall gibt uns natürlich zu denken.«
»Wo ist er denn?«
»Uns liegt eine Meldung vor, nach der er gestern in Thailand eingetroffen ist.«
Der Ermittler mustert mein Gesicht. Daher bemühe ich mich, meinen Schock so gut wie möglich zu verbergen, während ich die Konsequenzen seiner Worte zu erfassen suche. Wenn Bethany heute Nacht entführt wurde, kann es nicht Frazer Melville gewesen sein. Thailand. Das passt alles nicht zusammen. Wer hat dann Bethany mitgenommen? Ist es möglich, dass er genau das tut, was er angeblich tun wollte, und in diesem Moment irgendwelche |231| Naturfotos in Südostasien schießt? Obwohl in fünf Tagen eine Methan-Katastrophe ihren Lauf nehmen wird?
Das heute ist nie geschehen.
Genau wie Kristin Jonsdottir. Ich werde die Zähne zusammenbeißen und meine Rolle spielen. Aber nicht um ihretwillen.
»Sie
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