Endzeit
wirkt angesichts der neuen Entwicklung nicht erleichtert, sondern verärgert. Bethanys Postkarte bringe ihm »die Ermittlungen durcheinander«, erklärt er mir streng, geradezu unfreundlich. »Es kann auch eine falsche Spur sein.«
»Ich nehme an, Misstrauen gehört bei Ihnen zum Geschäft.«
»Sind Sie ganz sicher, dass es Bethanys Handschrift ist?«
»Absolut. Aber Sie können es ja überprüfen.«
|236| Sein Blick ist vernichtend. Offenbar hat er das längst veranlasst. »Hat sie jemals Freunde oder Verwandte in Schottland erwähnt?«
»Bethany ist kein Mädchen, das viel von Freunden und Verwandten hält. Und von Schottland hat sie nie gesprochen.«
»Meinen Sie, es könnte eine verschlüsselte Nachricht darin stecken?«
Ich erkläre ihm, dass die »elektrischen Grüße« eine scherzhafte Anspielung auf ihre EKT und Roller ihr typisch geschmackloser Spitzname für mich sei. Kind B. spreche wohl für sich selbst. Abgesehen davon keine Nachricht. Aber könne ich ihm irgendwie behilflich sein?
Er seufzt. »Ich schlage vor, Sie fahren nach Hause und warten ab. Sollte sie erneut Kontakt zu Ihnen aufnehmen, rufen Sie diese Nummer an.«
Er gibt mir eine Karte. »Sollten Sie Hadport aus irgendeinem Grund verlassen, geben Sie mir bitte Bescheid. Ich möchte wissen, wo Sie sich aufhalten. Falls sie wieder auftaucht, brauchen wir Sie unter Umständen kurzfristig hier.«
Als ich nach Hause komme, klingelt das Telefon. Ich hebe zu spät ab, sehe aber, dass schon zehn Anrufe eingegangen sind, alle von derselben Nummer. Sicher eine ebenso hartnäckige wie kranke Psyche. Aber wessen Psyche? Sekunden später klingelt es wieder. Joy. Sie ist völlig außer sich. Hat von Bethanys Entführung erfahren. Sie benutzt allerdings das Wort Flucht.
»Falls Sie ihr dabei geholfen haben, wissen Sie nicht, was Sie damit angerichtet haben. Ich habe Sie gewarnt.«
»Ich habe ihr nicht geholfen.«
»Begreifen Sie nicht, dass die ganze Welt in Gefahr ist? Kapieren Sie das nicht?« Ihre Erregung ist greifbar. »Ich war genau wie Sie. Ich habe nicht geglaubt, dass Menschen böse sein können. Jetzt aber tue ich es. Wenn sie könnte, würde sie den gesamten Planeten zerstören.« Ich empfinde nur müdes Mitleid, weil sie sich an diese Vorstellung klammert, um die Welt von der Willkür |237| zu befreien. Aber ich kann ihr nicht helfen. »Wenn Sie wissen, wo sie ist …«
Ich unterbreche sie scharf. »Ich wünschte, ich wüsste es. Tatsache ist, ich habe keine Ahnung.« Dann höre ich eine Männerstimme im Hintergrund, die ihr etwas zuruft. Eine Sekunde später schreit sie: »Lass mich los!« Ein Scheppern, als wäre das Telefon zu Boden gefallen. Ich höre sie toben. »Hallo?«, fragt ihr bedauernswerter Ehemann. »Mit wem spreche ich?«
»Gabrielle Fox. Wir sind uns im Restaurant begegnet.«
»Oh Gott. Ich muss mich für Joy entschuldigen. Die Medikamente, die sie einnimmt …«
Ich sage, er müsse mir nichts erklären oder sich entschuldigen. Dass ich ihn völlig verstünde. Dass er ein Segen für Joy sei. Und dass ich ihm Glück wünschte.
Das kann er wirklich gebrauchen.
Nachdem der Autounfall mein Leben auf den Kopf gestellt hatte, nahm ich an, dass meine Gedanken ewig um die Folgen und die Einschränkungen kreisen würden, die mir die Verletzung auferlegte, dass kein Faktor von außen meinen Solipsismus durchbrechen und ich diese erschöpfende Beschäftigung mit mir selbst bis zum Erbrechen, bis zum Tag meines Todes weiterführen würde. Dass sie mich begleiten würde wie das leise Summen eines Tinnitus. Dass ich weiterhin jeden Morgen mit dem Gedanken an mein brutal reduziertes Leben aufwachen würde. Jetzt aber …
Die Welt ist derzeit auf so groteske Weise in Bewegung, dass ich mein eigenes Chaos minutenlang vergesse. Und wenn ich mich daran erinnere, kann ich mir sogar verzeihen. Ich will gerade zu Bett gehen, als die SMS ankommt, auf die ich insgeheim gewartet habe. Die Nummer des Anrufers wird nicht angezeigt.
PARKPLATZ THORNHILL STATION
MORGEN FRÜH ZEHN UHR. KEIN WORT ZUR POLIZEI.
VVG.
|238| Wer ist VVG? Argwöhnisch, erregt und seltsam beschwingt fange ich an, einen großen Koffer zu packen: Kleidung, Schminksachen, Zahnbürste, Medikamente, Rollstuhlzubehör, Schmerzmittel, Shampoo. Was mache ich da eigentlich?
Aber ich höre nicht auf.
Wenn das Blut die Befehlsgewalt übernimmt, hat die Logik nichts zu melden. Wohl aber die Hoffnung. Und dies ist der stärkste Impuls, den ich seit
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