Endzeit
langer Zeit verspürt habe.
Als ich schließlich einschlafe, träume ich von umherwirbelnden schwarzen Vögeln.
|239| 3. Teil
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Es gibt viele Dinge, an die ich gern glauben würde, weil sie dem Leben eine innere Geschlossenheit verleihen könnten. Eines davon ist Gott. Ein anderes die Vorstellung, dass man an der Schwelle des Todes sein Leben noch einmal in kaleidoskopischen Fragmenten vorüberziehen sieht: Dramen, Traumata, überirdische Höhepunkte, tiefste Verzweiflung oder jene kristallisierten Augenblicke, in denen die Stimmung eines bestimmten Tages eingefangen ist – für mich der Geruch der Forsythien im Kindergarten oder eine Redewendung meiner Mutter,
» ça va tourner au vinaigre
«, die sie in bitterem Ton am Telefon zu jemandem sagt, oder das Knacken der Hundeflöhe, die Pierre und ich von unserem Terrier gepflückt und auf den Grill geworfen haben, oder die entsetzliche Intimität meines ersten Kusses oder der geradezu körperliche Schlag, den mir der Tod meiner Mutter versetzte, oder das Chaos bei Pierres Hochzeit oder die schmerzhafte Erkenntnis, als mein Vater »Mesopotamien« statt »Küche« sagte, oder der Abend, an dem ich Alex anschrie und er abrupt ausscherte, oder der Morgen, an dem die Ärzte das abschließende Urteil über meine Lähmung verkündeten und ich nichts Besseres zu tun hatte, als auf die Uhr zu schauen und festzustellen, dass es elf Uhr dreiundzwanzig war. Oder der 22. August, an dem sich das Erdbeben in Istanbul ereignete und kein Zweifel mehr an Bethany bestand und ich eine Grenze überschritt.
Eine Grenze, die jetzt so weit hinter mir liegt, dass mein altes Leben surreal erscheint.
Es ist Oktober, aber so sonnig und warm, dass noch Sommer sein könnte. Der Wind, der aufgerollte, welke Blätter über die |242| Straßen rascheln lässt, führt den Popcorngeruch von billigem Biosprit mit sich. Am Horizont rotieren die Flügel der Windräder unter einem blauen Himmel, der mit dünnen Wolkenstreifen aufgepeppt ist. Ich fahre durch ein Hadport, in dem die Menschen ihre morgendlichen Rituale vollziehen: Sie gehen zur Arbeit oder zur Schule, führen Hunde spazieren, öffnen Büros und Geschäfte, kaufen Caffè Latte und Croissants für unterwegs, stehen an der Straßenbahn Schlange, streben zu frühmorgendlichen A A-Tref fen , Baumärkten oder in die Arme ihrer Geliebten. Angst und Vorfreude mischen sich zu einem motivierenden Cocktail, sodass ich schon um neun Uhr in Thornhill ankomme. Ich parke am Bahnhof und begebe mich, da ich die Stunde irgendwie totschlagen muss, zu der berühmten mittelalterlichen Kirche des Ortes. Ich überquere den Friedhof, dessen Senkungsschäden und Bollwerke aus grobem Beton zu einer echten Herausforderung für mich werden. Schotter und Bausand sammeln sich im flachen Profil meiner Reifen, während ich die windschiefen Eiben umrunde.
Obwohl die Tür offen steht, ist es in der Kirche eisig wie in einer Tiefkühltruhe. Die Buntglasfenster über der Kanzel zeigen komplexe sakrale Farbmuster, unterteilt von schwarzem Blei. An einer Wand zeigt ein Gemälde den gekreuzigten Christus, den Kopf zur Seite geneigt, mit hervorspringenden Rippen und einer Speerwunde, aus der das Blut schießt. Um ihn herum die Menge. Schlotternd wühle ich in meinem Portemonnaie und lasse einige Münzen in den Kollektenkasten fallen, wobei ich den muffigen Geruch von Wachs und Salpeter einatme, der alle Gotteshäuser erfüllt, die größer als tausend Quadratmeter sind. Sie sammeln Geld für das von der Dürre heimgesuchte Afrika. Ein Drittel der Erdoberfläche besitzt kein Süßwasser mehr. Kann das wahr sein? Seit wann ist das so? Wäre ich gläubig, würde ich beten und eine Votivkerze anzünden. Stattdessen mustere ich das bunte Glas, suche einen Zusammenhang zwischen den Bildern. Um Viertel vor zehn kehre ich in einen so grellen Sonnenschein zurück, dass alle Farben verschossen scheinen und nur glitzernde Umrisse zurückbleiben. |243| Im Auto werfe ich meinen gefalteten Rollstuhl auf den Beifahrersitz. Mir kommt wieder der Traum mit den schwarzen Vögeln in den Sinn, vielleicht heraufbeschworen durch die bleiernen Unterteilungen der Kirchenfenster. Raben? Krähen?
Plötzlich verzieht sich mein Gesicht zu einem unerwarteten Lächeln. Gepriesen sei das Unbewusste.
Weizenfeld mit Krähen.
Von VVG.
Ich schalte das Autoradio ein, um Nachrichten zu hören. Stattdessen lande ich in einer Anrufsendung über Altersvorsorge, ein Thema, von dem die über
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