Engel auf Abwegen
eindringlich betrachtete, so als ob er nicht wüsste, was er von mir halten sollte. War es meine Schuld, dass Nikki bei Feinheiten immun war und ich deshalb so direkt sein musste?
Das Vernünftigste in diesem Fall wäre, meine beste Fassade aufzusetzen. Und das war gut so, sonst hätte ich vermutlich etwas völlig Unschickliches gesagt, als Nikki sich beeilte und Kleider für mich auszusuchen begann – schrecklich geschmacklose Klamotten, die sie mit Uhs und Ahs belegte, die ich jedoch ums Verrecken nicht anziehen würde.
»Dieses hier!«, schwärmte sie und warf das »Fundstück« mit einer ausladenden Bewegung über ihren Unterarm. »Das musst du dir einfach kaufen!«
Es war ein weißes Tunika-Oberteil aus Seide mit einem (zugegeben) hübschen Muster aus winzigen violetten und hellgrünen Blümchen an Ausschnitt und Saum, das gar nicht so schrecklich ausgesehen hätte (obwohl es immer noch nicht tragbar gewesen wäre), wenn es nicht durchsichtig
gewesen wäre. Durchsichtig ist noch viel schlimmer als schlecht.
»Das kann ich nicht tragen. Es ist zu …«
»Freizügig?«
»Zum Beispiel.«
»Aber das trägst du doch nicht ohne irgendetwas, Frede.«
Sie stöberte weiter, bis sie ein weißes Mieder fand. Dann zog sie eine Jeans hervor. Sie war ausgestellt (schlecht) und tief geschnitten (noch schlechter).
»Nun«, sagte ich, »herzlichen Dank, dass du dir solche Mühe gibst, aber das bin nicht wirklich … ich.«
»Das solltest du aber sein!«, hauchte Nikki. »Du würdest wunderschön darin aussehen.«
Mein Künstler blickte mich an. Wieder einmal. »Und dieses hier«, sagte er.
Er reichte mir ein Armband, ein unscheinbares Ding mit klimpernden Kristallen und kitschigen (um nicht zu sagen unechten) Perlmutttröpfchen.
Ehe ich zweimal überlegen konnte, dachte ich an die Junior High und den Tag zurück, an dem ich ein ähnliches Armband gekauft hatte. Ich hatte es abends beim Essen meinen Eltern gezeigt. Am nächsten Tag war es aus meinem Zimmer verschwunden. Als ich nachfragte, sagte meine Mutter, sie habe keine Ahnung, wovon ich rede. Später sah ich das Armband am Arm von einem der Hausmädchen, als es nach Hause ging. Ich fing an, es auszufragen, aber Nina hielt mich davon ab, eine Szene zu machen.
»Ihre Mutter ihr gegeben, Missy.«
Ich wusste nicht, ob ich mich mehr über die unverschämte Lüge meiner Mutter ärgern sollte oder darüber, dass das Hausmädchen mein geliebtes Armband hatte.
Ich befreite mich von dem Gedanken.
»Danke«, sagte ich zu Nikki und dem Künstler, der mich scharf ansah, »aber wir sind nicht hier, um Sachen für mich zu kaufen. Wir sind hier, damit ihr beide euch etwas kauft.«
Ich drehte mich um und sah eine hübsche hellgelbe (nicht einmal beige!) Seidenbluse und eine Hose mit hellgelben Aufschlägen.
»Die steht dir bestimmt gut, Nikki.«
»Die?« Sie grinste, nicht gerade verächtlich, aber sie sprang auch nicht vor Freude auf und ab.
»Ja, die.« Vielleicht habe ich es ein wenig zu streng gesagt und vielleicht war ich es langsam leid, dass sie ständig beweisen musste, dass sie nichts verstand.
»Frede! Das steht mir bestimmt nicht! Ich würde die Bluse so ausweiten, dass ich aussehe wie ein Stück Maiskuchen, der gerade aus dem heißen Fett kommt.«
»Du siehst darin überhaupt nicht dick aus«, schnauzte ich. »Du würdest zur Abwechslung mal vernünftig aussehen.«
Sie verstummte. »Willst du damit sagen, dass ich nicht vernünftig bin?«
»Glaubst du wirklich, Goldlamé oder rosa Federn sind vernünftig?«
Nikki verschlug es den Atem.
Ich starrte wütend vor mich hin.
»Ding, ding, ding.« Sawyer hielt die Hände hoch. »Werdet ihr euch schlagen, oder ist das nur ein verbaler Austausch?«
Nikki und ich drehten uns gleichzeitig um und platzten heraus: »Wir streiten uns nicht!«
Er zog eine Augenbraue hoch.
Lieber Himmel, ich machte überhaupt keine Fortschritte bei Nikki.
Nikki stöhnte und lächelte entschuldigend. Ich machte ein ernstes Gesicht, ging auf die St.-John-Strickwaren zu und ließ Sawyer mit einem amüsierten Grinsen auf dem Gesicht stehen. Nikki seufzte vor Enttäuschung.
Gott sei Dank gab es bei St. John genug Goldknöpfe, um Nikki einigermaßen zufriedenzustellen. Entweder das, oder sie wusste, dass ich mit meiner Weisheit am Ende war. Sie verschwand mit einer aufgeregten Verkäuferin in der Umkleidekabine und ließ den Künstler und mich allein.
Kurz darauf bemerkte ich, dass er mich erneut anstarrte.
»Was jetzt?«, fragte
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