Engel auf Abwegen
ihn kein einziges Mal gesagt, seitdem Sie in mein Studio gekommen sind, und sogar damals klang es mehr wie eine Frage. Vielleicht erinnern Sie sich nicht mehr daran.«
»Ich kenne Ihren Namen.«
Erneut begann er zu lachen. »In Ihren Augen bin ich wahrscheinlich nur ›der Künstler‹.«
Das ging gerade noch mal gut, besonders, weil die richtige Version »mein Künstler« lautete.
Ich schloss den Deckel des Kästchens und sagte: »Ich lege das Armband ein anderes Mal an. Es klingelt …« Gott sei Dank. »Das muss Ihr Fotograf sein.«
Einige Minuten später betrat der Fotograf das Zimmer.
»Sawyer!«, rief der Mann.
»Reynaldo.«
Die beiden Männer umarmten sich und küssten sich zweimal auf die Wange. (Das ist genauso schlimm, wie wenn man während des Essens eine Gabel in einer Hand und das Messer in der anderen hält, ohne eines von beiden abzulegen. Ich habe nichts dagegen, wenn man in Rom oder Europa ist, aber wir waren ja ganz woanders.)
Ich wurde Reynaldo vorgestellt, und er nahm meine Hand und küsste meine Handknöchel. (Hallo, wir sind in Amerika, Leute!)
»Sie sind eine Vision«, rief er aus.
Okay, einige Männer konnten es sich leisten, ihren europäischen Charme exzessiv zur Schau zu stellen.
Aber irgendwo hört der Charme auf, zumindest wenn es um mich geht. Mein Künstler – das heißt Sawyer – und Reynaldo machten sich sofort an die Arbeit und taten so, als sei ich gar nicht da. Das heißt, sie ignorierten mich einfach.
Wir gingen nach draußen, und sie besprachen die besten Perspektiven für die Aufnahmen, den Einfall des Sonnenlichts, die Gestaltung des fertigen Produkts. Die ganze Zeit über lachten sie miteinander wie alte Freunde. Mir kam der Gedanke, dass der Fotograf vielleicht Sawyers Freund sein könnte oder zumindest jemand, mit dem er sich regelmäßig traf.
Um ehrlich zu sein, mir war unbehaglich zumute. Ja, mir. Und es lag bestimmt nicht daran, dass mir die Vorstellung, dass zwei Männer zusammen waren, nicht behagte. Ich hatte ein komisches Gefühl bei dem Gedanken, dass mein Künstler überhaupt mit jemand anderem zusammen war. Und es wurde immer schlimmer, je später es wurde.
Als sie endlich mit den Aufnahmen begannen, musste ich mit ansehen, wie Sawyer fast unbekleidet am Pool stand. Er
trug Jeans und ein offenes Hemd. Ich bin mir nicht ganz sicher, wer mehr Lust auf ihn verspürte, Reynaldo oder ich.
Sawyer sah so fantastisch aus, wie er da am Pool stand, dass sich sogar Nina wieder gefasst hatte und sich zu mir gesellte.
»Er gut aussieht«, stellte sie fest. »Fast genauso gut wie Don Juan de Tango.«
Das stimmte, obwohl ich das Nina gegenüber niemals zugegeben hätte. »Das findet auch sein Freund.«
»Freund?« Nina sah mich mit ihrem bösen Blick an. »Sie eifersüchtig auf Reynaldo?«
Ich brachte eine bewundernswerte Art von Entrüstung auf. »Ich bin ganz sicher, dass ich nicht eifersüchtig auf Reynaldo bin.« Und das stimmte auch. Wirklich.
Nina schnaubte verächtlich. »Sie schlimm, Missy Ware.«
Dann stellten wir beide fest, dass Sawyer in unsere Richtung blickte. Mit glänzenden Augen kam er auf uns zu. Aber anstatt zu mir zu kommen, nahm er Ninas Hand und tanzte mit ihr im Kreis herum.
»Oh, Meester Sawyer!«
Sie klang wie ein Schulmädchen, das auf dem Ball der achten Klasse in den am meisten umschwärmten Jungen verknallt war. Ich schämte mich für sie.
Dann kam sie wieder zu mir, aber nicht sehr lange, denn als Nächstes war ich an der Reihe. Mein Künstler wirbelte mich genauso im Kreis herum, wie er es mit Nina gemacht hatte.
»Mr. Jackson!«
Zumindest klang das nicht so schlecht wie bei Nina.
»Was machen Sie da?«, fragte ich.
Er zog mich eng an sich, während Nina einige Vaterunser murmelte. Sawyer schien das nichts auszumachen.
Er tanzte mit mir um den Pool herum, als wären wir in einem großen Ballsaal, und sang dabei eine Melodie. Es war merkwürdig und berauschend zugleich.
Nach einigen Drehungen machte er eine letzte Don-Juan-mäßige Bewegung und bog mich nach hinten. Ich war total aus dem Konzept, denn wenn jemand einen so nach hinten biegt, spürt man so etwas wie … Stärke. Ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll. Sämtliche Muskeln waren in Bewegung geraten. Wäre der Typ nicht homosexuell, wären das überaus schlechte Umgangsformen gewesen, denn ich war schließlich verheiratet. Gott sei Dank war das nicht meine Sorge. Einen schwulen Freund zu haben, das war besser als ein Ehemann, denn er war stark,
Weitere Kostenlose Bücher