Engel auf Probe (German Edition)
Dunkelheit einen gewissen Schutz bot.
Nachdem Angie eine Weile aus dem Fenster gesehen hatte, sagte sie: “Vor ein paar Jahren ist der Fluss über die Ufer getreten, nicht wahr?” Sie hatte verzweifelt nach einem unverfänglichen Thema gesucht, um das lähmende Schweigen zu brechen, das auf ihnen lastete, seitdem sie das Taxi verlassen hatten. “Ich weiß noch, als ich damals den Bericht über die Überschwemmung in den Nachrichten sah.”
“Ja, das war ganz schön schlimm.”
Im Fenster spiegelte sich der Raum, und Angie konnte erkennen, dass Reed näher kam und direkt hinter ihr stehen blieb. Da sie keine Schuhe mehr trug, erschien ihr Reed noch größer als sonst. Im Gegensatz dazu kam sie sich richtig winzig vor. Erstaunlich, was zehn Zentimeter doch ausmachten!
“Das Wasser stieg so hoch, dass es schon die Uferstraße bedeckte.”
“Das muss ein schrecklicher Sommer gewesen sein.”
“Ich nehme mal an, du hast damals noch nicht hier gewohnt.”
“Nein.”
“Mit welchem deiner zahlreichen Jobs warst du denn damals beschäftigt? Kühe hüten oder im
Sarducci’s
in den Töpfen rühren?”
“Weder noch. Ich führte damals noch mein eigenes Leben. Das mit der Überschwemmung war, bevor …” Angie zeigte zur Decke und meinte damit den Himmel. “Du weißt schon.”
“Bevor du ein Engel wurdest?”
“Genau. Davor. Ich gehöre erst seit einem Jahr zu den himmlischen Heerscharen.”
“So, so.” Reeds amüsierter Tonfall ließ Angie erschauern. “Ist dir kalt?”
Erst jetzt stellte Angie fest, dass sie richtig zitterte, und schlang die Arme um sich. “Ja, ich friere tatsächlich. Aber es ist trotzdem ein gutes Gefühl. Ich freue mich über jede menschliche Regung. Ich wusste gar nicht, wie sehr ich das alles vermisst habe, bis ich …” Sie zwang sich, nicht weiterzusprechen, aus Angst, sonst etwas ganz Dummes zu tun – wie etwa zu weinen.
“Möchtest du gern duschen? Bestimmt finde ich irgendwo noch ein Sweatshirt für dich zum Anziehen.”
“Du glaubst mir nicht, stimmt’s?”
“Dass du ein Engel bist? Nein.” Reed legte Angie die Hände auf die Schultern und tastete sich langsam über ihren Rücken zu ihrem Po hinunter. Dabei raunte er ihr ins Ohr: “Willst du mir deine Flügel denn gar nicht zeigen?”
Angie wurde sich seiner zärtlich liebkosenden Berührung schmerzlich bewusst und sagte schließlich: “Es liegt nicht an mir, ob du meine Flügel sehen kannst oder nicht. Für einige Menschen sind sie sichtbar, für andere …” Angie zuckte die Schultern.
“Und der Heiligenschein?” Reed fuhr ihr mit den Fingern durchs nasse Haar.
“Ist der auch nicht da?”
“Nein.”
“Vielleicht liegt es daran, dass ich mich im Augenblick nicht besonders engelsgleich fühle.” Ein bittersüßes Lächeln umspielte ihre Lippen, und sie neigte beschämt den Kopf. “Nachdem, was heute Abend vorgefallen ist, frage ich mich, ob ich überhaupt noch einen Heiligenschein verdiene.”
“Angie!”, flüsterte Reed. “Was ist denn los?”
Angie versuchte, sich zusammenzureißen und stark zu sein. Wenn sie jemandem ihre wahre Identität offenbarte, wurde es immer schwierig. Manchmal erzählte sie dann auch von ihrer Mission, und einige Menschen glaubten ihr sogar. Das kam ganz auf die Persönlichkeit ihres Gegenübers an. Aber in Reeds Fall war alles schon von Anfang an furchtbar schiefgelaufen. Angie schnitt ein Gesicht. Eigentlich gingen all ihre Missionen ab einem bestimmten Punkt schrecklich schief. Trotzdem musste sie Reed irgendwie beibringen, dass er sie nicht als ganz normale Frau ansehen durfte.
Sie hatte eine enorm wichtige Aufgabe zu erfüllen, die sich auf Reeds ganzes Leben auswirken konnte. Eine Aufgabe, die sie unbedingt zu Ende bringen wollte. Wenn sie selbst schon nicht das wahre Liebesglück hatte erfahren dürfen, sollte es Reed wenigstens nicht verwehrt bleiben.
Schließlich nahm Angie alle Kraft zusammen und drehte sich zu Reed um.
Als er ihren verängstigt entschlossenen Gesichtsausdruck sah, hielt er erschrocken den Atem an. Der Regen hatte Angies Make-up weggewaschen, und sie wirkte fast noch schöner als vorher – wenn das überhaupt möglich war. Abgesehen von den leicht geröteten Wangen, strahlte ihr Gesicht, als leuchtete es von innen heraus. Ihr Haar trocknete allmählich und bildete winzige Löckchen, die den Kopf umrahmten und ihr ein engelsgleiches Aussehen verliehen, sodass Reed beinahe geneigt war zu glauben, was Angie ihm da soeben erzählt
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