Engel aus Eis
zuhören wollen, wenn sie ausgeschimpft werden.
»Was ist hier los? Wer sind Sie?« Hinter ihr ertönte eine zornige Stimme. Erica drehte sich erschrocken um. Ein großer Mann mit einem grauen Haarkranz und zwei Konsum-Tüten in der Hand starrte sie an. Das musste Herman sein. Erica erhob sich.
»Verzeihung, ich … Mein Name ist Erica Falck. Britta war in ihrer Jugend mit meiner Mutter befreundet, und ich wollte ihr ein paar Fragen stellen. Zuerst wirkte alles ganz unproblematisch … aber dann … außerdem hat sie den Herd eingeschaltet.« Erica verhaspelte sich. Die ganze Situation war furchtbar unangenehm. In ihrem Rücken setzte Britta ihr kindliches Gebrabbel fort.
»Meine Frau hat Alzheimer.« Herman stellte die Tüten ab. Eine unendliche Traurigkeit lag in seinen Worten, und Erica bekam schlagartig ein schlechtes Gewissen. Alzheimer. Sie hätte es ahnen müssen. Der schnelle Wechsel von totaler Klarheit zuweltabgewandter Verwirrtheit. Sie hatte gelesen, dass die Gehirne von Alzheimerpatienten die Betroffenen in einer Grauzone gefangen hielten. Am Ende blieb nur noch Nebel.
Herman ging zu seiner Frau und nahm ihr behutsam die Hände von den Ohren. »Ich musste nur schnell einkaufen gehen, aber nun bin ich wieder da, mein Liebling. So, alles ist gut …« Er wiegte sie in seinem Arm, und das Gebrabbel ließ allmählich nach. Dann sah er Erica an. »Es ist besser, wenn Sie jetzt gehen. Und kommen Sie bitte nie wieder.«
»Aber Britta erwähnte etwas … Ich muss wissen …« Erica verhaspelte sich bei dem verzweifelten Versuch, die richtigen Worte zu finden, aber Herman blickte sie nur an und wiederholte entschieden: »Kommen Sie nicht wieder!«
Als Erica aus dem Haus schlich, kam sie sich wie ein Einbrecher vor. Hinter sich hörte sie Herman beruhigend auf seine Frau einreden. Doch in ihrem Kopf hallten Brittas verwirrte Worte über die Leichen im Keller wider. Was konnte sie damit gemeint haben?
Die Pelargonien waren in diesem Sommer ungewöhnlich schön gewesen. Liebevoll ging Viola herum und zupfte verwelkte Blüten ab. Das war notwendig, damit sie so wunderbar blieben. Ihre Pelargonienzucht hatte sich inzwischen beeindruckend entwickelt. Jedes Jahr nahm sie von ihren Pflanzen Stecklinge, pflanzte sie sorgfältig in kleine Blumentöpfe ein und topfte sie noch einmal um, wenn sie größer waren. Am liebsten hatte sie die Mårbackapelargonie, das war die schönste von allen. Die Mischung aus den zarten rosa Blüten und den etwas unförmigen und struppigen Blättern sorgte für ein ganz besonderes ästhetisches Erlebnis. Aber die Rosenpelargonien waren auch schön.
Die Pelargonienliebhaber waren eine große Gruppe. Seit ihr Sohn sie in die wunderbare Welt des Internets eingeweiht hatte, war sie Mitglied in drei verschiedenen Foren und hatte vier Rundbriefe abonniert. Am meisten Freude machte ihr jedoch der Austausch mit Lasse Anrell. Wenn es irgendjemanden gab, der Pelargonien noch mehr liebte als sie, dann war es Lasse. Seit sie eine seiner Lesungen besucht hatte, schrieben sie sich E-Mails.Sie hatte an diesem Abend viele Fragen gehabt. Sympathie hatte sich entwickelt, und nun freute sie sich immer auf die Nachrichten, die in regelmäßigen Abständen in ihrem Posteingang eintrudelten. Erik hatte sie deswegen oft geneckt. Sie habe hinter seinem Rücken eine heimliche Liebesaffäre mit Lasse Anrell, und das ganze Gerede über Pelargonien sei doch nur ein verschlüsseltes Gespräch über sehr viel erotischere Aktivitäten … Besonders über das Wort Rosenpelargonie hatte er eine selbstgestrickte Theorie, und seitdem lautete sein Kosename für sie … Rosenpelargonie … Viola errötete bei dem Gedanken, aber die Röte wich kurz darauf den Tränen, als ihr zum hundertsten Mal bewusst wurde, dass Erik tot war.
Als sie mit der kleinen Kanne vorsichtig etwas Wasser auf den Teller goss, saugte die Blumenerde es gierig auf. Pelargonien durfte man auf keinen Fall zu stark gießen. Am besten trocknete die Erde zwischendurch richtig aus. In vielerlei Hinsicht war das eine passende Metapher für ihre und Eriks Beziehung. Als sie sich kennenlernten, war der Boden bei ihnen beiden ziemlich ausgetrocknet gewesen, und sie waren sorgsam darauf bedacht, ihn nicht zu stark zu wässern. Jeder behielt seinen Wohnort, sie lebten beide ihr eigenes Leben und trafen sich nur, wenn sie beide die Lust und die Kraft dazu hatten. Dieses Versprechen hatten sie sich schon bald gegeben. Dass ihre Beziehung voller Freude sein
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