Engel aus Eis
zögerte noch immer, doch dann gewann seine Neugier die Oberhand. »Okay, wir machen es so. Ich gehe kurz mit und komme vor dem Mittagessen zurück. Ruf mich sofort an, wenn es Probleme gibt. Ach ja, und gegen halb elf muss sie essen, am liebsten mag sie immer noch alles sorgfältig püriert, aber ich glaube, ich habe noch ein Gläschen mit Spaghetti und Hackfleischsauce, das du in der Mikrowelle warm machen kannst. Nach dem Essen wird sie meistens müde, aber du brauchst sie nur in den Kinderwagen zu legen und ein bisschen mit ihr herumzuspazieren. Vergiss den Schnuller nicht! Beim Einschlafen muss immer der Teddy neben ihr liegen und …«
»Stopp!« Lachend hob Annika die Hände. »Maja und ich schaffen das schon. Kein Problem. Ich werde dafür sorgen, dass sie unter meiner Obhut nicht verhungert, und das mit dem Nickerchen bekommen wir bestimmt auch hin.«
»Danke.« Patrik stand auf. Er hockte sich neben seine Tochter und küsste sie auf das blonde Köpfchen. »Papa geht nur mal kurz weg. Du bleibst bei Annika. In Ordnung?« Maja sah ihn eine Sekunde lang mit großen Augen an, aber dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Puppe zu und zupfte an deren Wimpern. Enttäuscht stand Patrik auf. »Da sieht man mal wieder, wie unersetzlich man ist. Viel Spaß!«
Er umarmte Annika und ging hinaus in die Garage. Ein wunderbar wohliges Gefühl breitete sich in ihm aus, als er sich hinter dem Steuer des Polizeiwagens niederließ und Martin neben ihm einstieg. Paula setzte sich auf die Rückbank. Sie hielt den Zettel mit Violas Adresse in der Hand. Patrik parkte rückwärts aus und fuhr in Richtung Fjällbacka. Er musste sich zusammenreißen, um nicht vor Wohlbefinden ein Liedchen zu trällern.
Bedächtig legte Axel den Hörer auf die Gabel. Plötzlich wirkte alles so unwirklich. Er schien immer noch im Bett zu liegen und zu träumen. Ohne Erik war das Haus so leer. Sie hatten immerdarauf geachtet, dem anderen seinen Freiraum zu lassen. Keiner war in die Privatsphäre des anderen eingedrungen. Manchmal hatten sie tagelang kein Wort gewechselt. Oft hatten sie zu unterschiedlichen Zeiten gegessen und waren in ihren Zimmern geblieben, die in verschiedenen Teilen des Hauses lagen. Das bedeutete jedoch nicht, dass sie sich nicht nahestanden. Das taten sie – oder hatten sie vielmehr getan, korrigierte Axel sich selbst. Denn nun war die Stille anders als damals, als Erik unten in der Bibliothek saß und las. Damals hätten sie die Stille jederzeit mit ein paar Worten unterbrechen können. Wenn sie wollten. Die jetzige Stille war absolut und unendlich. Endlos.
Erik hatte Viola nie mitgebracht. Er hatte auch nicht über sie gesprochen. Axel war nur ein einziges Mal mit ihr in Kontakt gekommen, als er zufällig ans Telefon ging und sie dran war. Erik hatte die Angewohnheit, hin und wieder für ein paar Tage zu verschwinden. Er packte eine kleine Tasche mit dem Nötigsten, verabschiedete sich kurz und war weg. Manchmal hatte Axel seinen Bruder beneidet. Weil er jemanden hatte. Axel dagegen hatte in diesem Punkt kein Glück im Leben gehabt. Natürlich hatte es Frauen gegeben. Aber es hatte sich nie etwas entwickelt, das die erste Verliebtheit überdauerte. Immer war es seine Schuld gewesen, das war ihm vollkommen klar, aber er konnte nichts dagegen machen. Die andere Macht in seinem Leben war zu stark gewesen. Sie hatte ihn aufgefressen. Mit den Jahren hatte sie sich in eine Geliebte verwandelt, die für nichts anderes Platz ließ. Seine Arbeit war sein Leben, seine Identität, sein wahrer Kern. Seit wann das so war, wusste er nicht. Nein, das war übrigens gelogen.
Axel setzte sich auf den geflickten Stuhl neben der Kommode im stillen Flur und weinte zum ersten Mal, seit sein Bruder tot war.
Erica genoss die Stille im Haus. Sie konnte sogar die Arbeitszimmertür offen lassen. Sie legte die Beine auf den Schreibtisch und dachte über das Gespräch mit Erik Frankels Bruder nach. Es hatte eine Art Schleuse in ihr geöffnet und sie mit einem unstillbaren Interesse an den Seiten ihrer Mutter erfüllt, die sie offensichtlich nicht gekannt und von denen sie auch nichts geahnt hatte. Sie spürte intuitiv, dass sie nur einen Bruchteil dessen erfahren hatte, was Axel Frankel über ihre Mutter wusste. Doch warum verbarg er etwas vor ihr? Sie griff nach den Tagebüchern und las dort weiter, wo sie vor einigen Tagen aufgehört hatte, aber sie fand keinen Anhaltspunkt, sondern nur die Gedanken und den Alltag eines jungen Mädchens.
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