Engel aus Eis
sich um Menschen kümmern, die man immer für unfehlbar und unverwüstlich gehalten hatte. Auch wenn man seine Eltern längst nicht mehr als gottähnlicheWesen betrachtete, die auf alles eine Antwort hatten, war es schmerzhaft, wenn sie ihre Kraft verloren.
Anna-Greta drückte Hermans knochige Schultern noch ein paar Mal ganz fest. Dann setzte sie sich wieder an den Küchentisch.
»Kommt sie denn allein zurecht, während du hier bist?«, fragte Maggan besorgt. »Soll ich nicht mal schnell hinüberflitzen und nach ihr schauen?«
»Als ich ging, war sie gerade eingeschlafen«, antwortete Herman. »Doch da sie normalerweise nicht länger als eine Stunde schläft, werde ich mich jetzt nach Hause begeben.« Schwerfällig stand er auf.
»Wir könnten doch hinübergehen und eine Weile bei ihr bleiben, damit du dich ausruhen kannst«, schlug Birgitta vor. »Soll Papa sich nicht eine Weile ins Gästezimmer legen?«, fragte sie Maggan, weil sie sich bei ihr zum Kaffeetrinken verabredet hatten, um über ihre Mutter zu sprechen.
»Das ist eine wunderbare Idee.« Maggan nickte ihrem Vater eifrig zu. »Wir gehen zu ihr, und du legst dich ein bisschen hin.«
»Danke, Mädchen.« Herman ging in den Flur. »Aber Mutter und ich haben uns fünfzig Jahre lang umeinander gekümmert, und deswegen möchte ich gerne in den wenigen Momenten, die uns noch bleiben, für sie da sein. Wenn sie erst im Heim ist …« Er beendete den Satz nicht, sondern verließ eilig das Haus, damit sie seine Tränen nicht sahen.
Britta lächelte im Schlaf. Je weniger Klarheit ihr Gehirn im Wachzustand zuließ, desto mehr hatte sie im Schlaf davon. Einige Erinnerungen waren nicht willkommen, drängten sich jedoch trotzdem auf. Wie zum Beispiel das Geräusch, das der Gürtel ihres Vaters auf nackten Kinderpopos erzeugte. Oder der Anblick des verheulten Gesichts ihrer Mutter. Die Enge in dem kleinen Haus am Hang, durch das die Kinderschreie so laut schrillten, dass sie sich immerzu die Ohren zuhalten und mitbrüllen wollte. An andere Dinge erinnerte sie sich gerne. Die Sommer, als sie von den warmen Klippen sprangen und unbekümmert spielten. Elsy in ihren geblümten Kleidern, die ihreMutter so geschickt nähte. Erik mit der kurzen Hose und der ernsten Miene. Frans mit den blonden Locken, die sie so gerne anfassen wollte, obwohl sie alle so jung waren, dass der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen noch keine große Bedeutung hatte.
Eine Stimme durchdrang die Erinnerungen ihres Schlafes. Sie kannte sie nur allzu gut. Immer öfter hatte sie zu ihr gesprochen. Hatte keine Ruhe gegeben, ob sie nun wachte, schlief oder vom Nebel umgeben war. Sie überwand alles, wollte alles, forderte ihren Platz in ihrer Welt. Diese Stimme erlaubte ihr nicht, Frieden zu finden und zu vergessen. Dabei hatte sie geglaubt, sie würde sie nie wieder hören. Nun war sie hier. Es war so seltsam. Und so beängstigend.
Sie warf ihren Kopf auf dem Kissen hin und her. Versuchte im Schlaf, die Stimme und die störenden Erinnerungen abzuschütteln. Schließlich gelang es ihr. Schöne Bilder tauchten auf. Ihre erste Begegnung mit Herman. Der Tag, an dem sie plötzlich wusste, dass er und sie ihr Leben miteinander verbringen würden. Die Hochzeit. Sie im schönen weißen Kleid, ganz schwindlig vor Glück. Die Schmerzen und die Liebe, als Anna-Greta geboren wurde. Birgitta und Margareta, die sie genauso liebte. Herman, der trotz des lautstarken Protests ihrer Mutter die Kinder wickelte. Er hatte es aus Liebe getan. Nicht aus Pflichtgefühl oder weil es von ihm verlangt wurde. Sie lächelte. Ihre Augäpfel bewegten sich unruhig hinter den Lidern. Hier wollte sie bleiben. In diesen Erinnerungen. Wenn man sie zwang, sich eine einzige Erinnerung auszusuchen, mit der sie ihren Kopf für den Rest ihres Lebens ausfüllen konnte, dann war es Herman, der ihre jüngste Tochter in der kleinen Säuglingswanne badete. Summend stützte er ihr Köpfchen mit der Hand ab. Unendlich vorsichtig strich er mit dem Waschlappen über den zarten Körper. Sah seiner Tochter in die Augen, die jede seiner Bewegungen gespannt verfolgten. Sie sah sich selbst im Türrahmen stehen, von wo aus sie das Geschehen heimlich beobachtete. Und wenn sie alles andere vergaß, um diese Erinnerung würde sie kämpfen. Herman und Margareta, die Hand unter dem Kopf, die Zärtlichkeit und die Nähe.
Ein Laut riss sie aus ihrem Traum. Sie versuchte, wieder dorthin zu gelangen. Zurück zu dem plätschernden Wasser, mit dem Herman den
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