Engel der Finsternis (German Edition)
dass der Kaplan sich irrte. Meresin hatte ihr gesagt, dass Agreas die Seele der Gräfin bereits geholt hatte. Und seit sie erfahren hatte, was Walburga im Gemach des Grafen widerfahren war, ahnte sie, dass in dieser Nacht noch etwas geschehen würde. Sie schloss die Augen und senkte den Kopf. „Meresin“, flüsterte sie so leise, dass es niemand hören konnte.
Der Engel stand unsichtbar hinter dem Altar an der Wand und beobachtete aufmerksam, was in der Kapelle vor sich ging. Er hatte Agreas und die anderen gehört. Sie waren irgendwo da draußen und warteten auf den richtigen Moment. Zweifellos hatte Agreas es sich nicht nehmen lassen, die Gräfin zu ihrer eigenen Trauerfeier mitzubringen. Meresin kannte ihn gut genug, um zu wissen, wie sehr er es genoss, das Entsetzen und die Fassungslosigkeit in den Gesichtern der Verdammten zu sehen, sobald ihnen klar wurde, dass sie rettungslos verloren waren.
Die Frauen hofften stets bis zum letzten Moment auf eine Art Wunder. Sie wehrten sich verzweifelt gegen die Endgültigkeit dessen, was ihnen aufgebürdet wurde. Auch die Gräfin würde sicherlich voller Angst an diesen Ort zurückkehren. Doch wie bei allen anderen Weibern des Wilden Heeres würde sich ihre Furcht in Zorn auf die Lebenden verwandeln, sobald sie in deren Gesichter blickte. Es war der Hass derer, die erwischt wurden, auf jene, die davongekommen waren. Der Wunsch, sie ebenso ins Verderben zu reißen, wurde in den Verdammten übermächtig.
Meresin hatte es schon mehr als einmal miterleben können, wie verzagt dreinblickende, jammernde Frauen innerhalb kürzester Zeit zu bösartigen Ungeheuern wurden, wenn man sie zu denen führte, die um sie trauern sollten. So war es auch an diesem Abend. Agreas hatte alles sorgfältig vorbereitet.
Als der Kaplan in Begleitung zweier Messdiener nach vorne neben den auf einem Katafalk ruhenden Leichnam trat, erschienen die Weiber im Dunkel des Kirchenschiffes. Lautlos schwebten sie herein, die Reisigbesen in den klauenartigen Händen. Dann hörte er das Rauschen mächtiger Flügel. Agreas und Balam hatten die Gestalt von Engeln angenommen. Langsam zogen sie ihre Bahnen über den Köpfen der erregt tuschelnden Männer und Frauen. Kein Windhauch ließ die Fackeln oder die Flammen der Kerzen erzittern. Noch wollten die Dämonen unentdeckt bleiben. Aber die Art wie Agreas den Kaplan ansah, zeigte Meresin, dass er irgendetwas mit ihm vorhatte.
„Worauf wartest du?“, wollte Meresin wissen, als sich Agreas neben ihm niederließ. Agreas schloss seine Flügel, schüttelte sich kurz und atmete scheinbar genussvoll den Duft der Kerzen ein, die links und rechts vom Leichnam auf hohen Ständern aus sorgfältig geschnitztem Holz standen. „Wo ist die Gräfin? Du hast sie doch hergebracht?“
„Natürlich!“ Agreas blickte desinteressiert auf den Leichnam. Seine Augen funkelten im Licht der Kerzen. Die Schatten, die über sein Gesicht huschten, verliehen ihm selbst in dieser Gestalt ein wahrhaft dämonisches Aussehen. „Sie soll sehen, wie sehr sie vermisst wird.“
„Du bist doch nicht deswegen hier.“
Agreas wandte sich Meresin zu. „Was meinst du?“
„Du bist wegen Walburga hier. Sie ist es, die du als nächstes haben möchtest.“
„Warum sollte mich eine lüsterne Bauernmagd interessieren?“
„Weil du sie benutzen willst, um den Grafen und den Kaplan zu Fall zu bringen.“
Agreas sah Meresin fest in die Augen. Der erwiderte mit versteinerter Miene dessen Blick. Agreas zeigte keinerlei Unsicherheit oder Überraschung, obwohl er wissen wollte, ob Meresin die Wahrheit sagte oder nicht. Wusste Meresin etwa, dass es nur um Franzi und ihn ging? Er ließ seinen Blick über die versammelten Gläubigen schweifen und fand Franzi ziemlich weit vorne, nicht weit vom Altar entfernt. Von dort, wo er und Meresin sich befanden, hatte man sie gut im Blick. Meresin hatte zweifellos nicht zufällig diese Position gewählt. Er wollte Franzi im Auge behalten können, wenn es losging. Also wusste er, was Agreas plante oder er ahnte es vielleicht auch nur. So oder so, Agreas musste sehr vorsichtig sein, sonst könnte es passieren, dass er wie Balam vollkommen unvorbereitet Meresins Zorn zu spüren bekam. Der trug zwar nicht mehr das Flammenschwert der Wächterengel, war aber trotzdem noch immer den meisten anderen Engeln an Kampfkraft überlegen.
Als Balam sich ihm im Kloster Buchau hatte stellen wollen, warf er ihn mühelos nieder und demütigte ihn. Meresin hatte eine Nonne
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