Engel der Finsternis (German Edition)
Federn waren so lang wie der Unterarm einer Frau und die Finger dick wie knorrige Äste. Der kantige, beinahe quadratische Kopf saß auf einem breiten Hals und war bedeckt von einer schulterlangen blonden Mähne. Seine blauen Augen wirkten kalt und verschlagen, der Mund war schmal und farblos, die Nase gerade und wohl proportioniert. Er wusste, er war schön und dass die Weiber zu seufzen begannen, wenn sie ihn nur von weitem sahen. Und zu schreien, wenn er bei ihnen war. Denn Harut nahm keinerlei Rücksicht, wenn er sich einer Frau bemächtigte. Er war mindestens ebenso brutal und genauso skrupellos wie Agreas. Was aber noch wichtiger war, er hasste Meresin.
Agreas hatte ihn nie nach den Gründen gefragt. Es interessierte ihn nicht. Wichtig war nur, dass er sich auf ihn verlassen konnte. „Absolut! Meresin wird sie nicht wegschaffen, ehe sie ihn selbst darum bittet. Das müssen wir ausnutzen und schnell und vor allem entschlossen handeln.“
„Wo soll ich mit der Suche beginnen?“
„Beim alten Druidenhain. Ich könnte mir vorstellen, dass er dorthin geflogen ist. Er ist oft dort.“ Agreas lachte höhnisch und verzog angewidert das schöne Gesicht. „Er denkt immer noch an damals. Vielleicht will er Franzi auch bei Berchta verstecken.“
„So dumm kann er nicht sein!“
„Wer weiß? Du solltest dir ein paar von den Holden Frauen schnappen. Wenn er bei ihnen ist, werden sie es dir verraten. Ich denke, so findest du ihn am ehesten. Und selbst wenn sie nichts wissen, können sie dir nützlich sein. Ihr Geschrei wird ihn aus seinem Versteck locken. So wie Franzi die Nachricht, dass ihr Vater in Gefahr ist.“
„Und wenn du dich irrst? Wenn Vater noch nicht verloren ist? Was dann? Ich kann nicht gehen, ohne sicher zu sein. Ich würde es mir nie verzeihen. Verstehst du das denn nicht?“ Franzi konnte es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, ihre Familie zu verlassen, ohne nicht alles in ihrer Macht stehende unternommen zu haben, um sie zu retten. Ihr Vater war alles, was sie noch hatte. Sie konnte ihn nicht einfach aufgeben. Dafür liebte sie ihn zu sehr.
Meresin verstand nur allzu gut. Hätte er es nicht verstehen können, wäre er längst mit Franzi aufgebrochen. Seit drei Tagen saßen sie nun in dieser Höhle und warteten. Meresin wollte aber nicht nur Franzi ausreichend Zeit geben, eine eigene Entscheidung zu treffen, er wollte auch wissen, was Agreas plante.
Er war sich im Klaren darüber, sein Rivale suchte ihn. Agreas hatte sofort richtig erkannt, dass er sich in dem Teil des Waldes aufhielt, in dem auch Berchta und die Holden Frauen lebten. Schon des Öfteren war er Dämonen begegnet, wenn er allein die Höhle verlassen hatte, um sich ein wenig umzusehen. Bei einem dieser Erkundungsgänge hatte er Harut entdeckt, dem wohl aggressivsten und erbarmungslosesten Dämon. Agreas war also zu allem entschlossen. Ihm blieb auch gar keine andere Wahl. Meresins Wissen in den Händen eines Menschen könnte den Untergang der Dämonen bedeuten. Luzifer würde Agreas ebenso dafür verantwortlich machen wie Meresin selbst.
Dem machte die Vorstellung freilich weit weniger Angst als Agreas oder sonst einem Dämon. Franzi würde ihr Wissen kaum gegen ihn einsetzen. Sie liebte ihn noch immer. Obwohl sie nun wusste, wer er war und was er getan hatte. Franzi hatte ihm vergeben. Natürlich war sie schockiert gewesen, als sie die Wahrheit erfuhr. Aber ihre Liebe zu Meresin und die Freude darüber, dass er sie verschont hatte, überwog die Tatsache, was er wirklich war. Meresin hatte ihr damit seine eigenen tiefen Gefühle für sie bewiesen.
Aber so sehr sie ihn auch liebte, sie konnte und wollte ihre Familie nicht im Stich lassen. Sogar Walburga und Heidrun wollte sie helfen. Franzi glaubte aus voller Überzeugung an das Gute in jedem Menschen. Sie war von Mersin einfach nicht davon abzubringen, dass Walburga das Schicksal, das ihr nun drohte, nicht verdient hatte. Franzi suchte nach wie vor nach einer Möglichkeit, ihre Schwester vor der ewigen Verdammnis zu retten.
„Du bist zu gut für diese Welt“, murmelte Meresin und bedachte sie mit einem liebevollen Blick, ehe er ein weiteres Stück Holz ins Feuer legte.
„So wie du“, erwiderte sie leise und schlang ihre Arme um ihn.
Meresin zog Franzi in seine Arme und drückte sie an sich. So standen sie neben dem Feuer und lauschten auf das leise Knistern der Flammen, während jeder seinen Gedanken nachhing. Im Grunde dachten beide dasselbe: Warum? Warum nur konnten
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