Engel der Kindheit
Krone brechen, verlass dich drauf!“ Gallenbitter fuhr sie ihn an, dachte daran, wie gerne Nils hier bei ihnen im Haushalt helfen würde, wenn er nur weit weg von seinem Vater sein konnte. Nils! Ständig kreisten ihre Gedanken um ihn. In jeder Sekunde dachte sie an den dunklen Schuppen, an die Striemen und Narben an seinem Körper, an die Laute seines Vaters, wenn er auf ihn einschlug. An die Tränen, die Nils vergoss, sich bemühte sie zurückzuhalten und doch machtlos dagegen war.
„Du hast ja keine Ahnung, du Küken! Du bist ja erst in der Sechsten!“
„Ruhe jetzt!“ Energisch unterbrach Sonja den Zwist ihrer Kinder. „Lena, lauf mal zu Papa in die Praxis und sieh nach, wie viele Patienten er noch zu verarzten hat!“
Widerspruchslos lief Lena über den langen Gang zu den Praxisräumen. Gerade, als sie nach der Klinke fassen wollte, öffnete Ihr Vater die Türe
„Hallo Engelchen, wolltest du mich holen? Ich bin schon fertig!“ Liebevoll legte Georg Johle den Arm über die schmale Schulter seiner Tochter. „Deinem Rehkitz geht es gut, es wird überleben!“ Gestern hatte sie ein Rehkitz im Feld gefunden, das von einem Mähdrescher gestreift worden war.
„Das ist schön!“ Immer noch streifte sie täglich über die Felder, suchte nach verletzten Tieren. Oft alleine, manchmal kam eine Freundin mit, die allerdings allzu bald die Lust an ihren Streifzügen verlor.
Philipp und ihre Mutter saßen bereits am Esstisch, als Lena und ihr Vater das helle, sonnige Esszimmer betraten.
Während des Essens plänkelte das Gespräch leicht vor sich hin.
„Ich gehe heute mit Mareike ins Freibad!“ Wieder einmal hatte Lena sich überreden lassen mitzukommen.
„Oh Mann! Aber halt dich ja von uns fern!“ Wütend sah Philipp seine kleine Schwester an. Wenn sie in der Nähe war, konnte er nicht versuchen, bei einem Mädchen zu landen.
„Ich bin da, wo ich sein möchte!“, konterte Lena scharf. Maßlos ärgerte ihr Bruder sie! Sie war kein Baby mehr, um das er sich kümmern musste! Außerdem wusste sie, dass er sich für die Mädchen seiner Klasse interessierte, das war ihr doch egal!
„Ihr sollt aufhören zu streiten!“, rief Sonja dazwischen und räumte das Geschirr und die Essensreste in die Küche, bevor sie mit ihrem Mann auf der Terrasse eine Tasse Kaffee trank.
„Komm, wir legen hier unsere Handtücher hin!“ Zielstrebig war Mareike in die Richtung gelaufen, in der die Clique von Lenas Bruder lag. Siegessicher legte sie ihr Handtuch auf den kurzgetrampelten, ausgetrockneten Rasen.
„Nee, das ist mir zu dicht bei meinem Bruder, der kann mich gerade nicht ausstehen!“ Unerwartet sah Lena am Rand der Gruppe Nils in seinem schwarzen T-Shirt sitzen. Seine Augen hatten sie zuerst gesehen, sein Blick hielt sie gefangen.
„Ach Mann, komm, lass uns hier bleiben, das ist der einzige Schattenplatz, den es noch gibt!“ Bettelnd sah Mareike ihre Freundin an, die regungslos zur Gruppe ihres Bruders starrte.
Verärgert sprang Philipp auf und rannte, zornesrot im Gesicht, auf sie zu. „Du sollst hier verschwinden! Ich brauche keinen Bewacher!“ Aufgebracht herrschte er sie an, bedrohlich hatte er sich vor ihr aufgebaut, die Hände in die Hüften gestemmt, stand er breitbeinig vor ihr. Augenblicklich war Nils ihm gefolgt, hatte die Absicht Philipps geahnt, fest nahm er ihn am Ellenbogen und hielt ihn zurück, bevor Philipp handgreiflich werden konnte.
„Lass sie doch in Ruhe! Sie stören doch niemand! Sie haben das gleiche Recht hier zu sein!“ Ruhig sprach er auf den Freund ein.
„Das Freibad ist so groß, dass sie sich ein anderes Eck suchen können!“ Angsteinflößend tief hatte er die Augenbrauen zusammengezogen.
Bei Philipps Worten traten Mareike die Tränen in die Augen. Heimlich hatte sie ein Auge auf Lenas großen Bruder geworfen.
„Lass uns gehen!“ Zornig nahm Lena Mareikes Handtuch vom Boden. „Danke, Nils!“ Hocherhobenen Hauptes schritt sie zu einem anderen Teil der Wiese. Widerwillig folgte Mareike ihr.
Traurig sah Nils ihr hinterher. Es wäre zu schön gewesen, sie in seiner Nähe zu wissen.
„Der ist so blöd! Ihm gehört das Freibad doch nicht alleine, oder? Ist der zu Hause auch immer so oder nur vor seiner Clique?“ Schniefend zog Mareike die laufende Nase hoch, zornig wischte sie sich über die Augen.
„Er ist immer so!“ Abfällig klangen die Worte aus Lenas Mund.
„Schade!“ Ihr gefiel der hochgewachsene Junge so, dessen Stimme in der letzten Zeit eine tiefe Note
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