Engel der Kindheit
presste sein Gesicht in ihrer Halsbeuge gegen ihr kräuselndes, patschnasses Haar.
Allmählich bemerkte Lena, wie Nils Atem ruhiger wurde, wie er entspannter und unverkrampfter Luft holte.
„Danke Lena, dass es dich gibt! Ich wüsste nicht, was ohne dir aus mir werden würde! Vielleicht würde ich heute die Kleinen auf dem Schulhof verprügeln, oder sonst wie meinen Frust abladen und meine Fäuste verwenden, gegen Schwächere. Eins weiß ich sicher, ich möchte nie eigene Kinder! Viel zu sehr hätte ich Angst, ihnen das Gleiche anzutun, aus Verzweiflung oder Frustration, aus Angst oder Langeweile, oder einfach nur um ihnen zu beweisen, wer der Stärkere ist.“ Dunkel blickten Nils engstehende Wolfsaugen in ihr engelsgleiches Gesicht, in dem sich sein Schmerz genauso, wie er ihn empfand, wiederspiegelte. Wenn er sprach sah sie die übereinanderstehenden Schneidezähne hinter seinem schmalen Mund, dessen Lippen einen weichen, empfindsamen Schwung hatten.
„Du wirst nie so werden! Das weiß ich! Du bist sanft und gut, empfindsam und gefühlvoll! Du könntest nie jemanden quälen oder zusehen, wie jemand gequält wird!“ Der ganze Ernst ihrer jungen Jahre schwang in ihrer Stimme mit. So sicher wusste sie, dass Nils nie jemand etwas zuleide tun konnte.
„Wie kannst du dir so sicher sein, dass ich nicht irgendwann zum Monster werde, irgendwann, wenn ich es nicht mehr aushalte?“ All seine Verzweiflung lag in diesem Satz, all seine geheimsten Ängste waren dahinter verborgen.
„Weil ich dich kenne, wie mich selbst!“ Felsenfest blickte sie ihn an, nicht die geringste Unsicherheit oder den leisesten Zweifel in ihrem warmen, mitfühlenden Blick.
Ausgestreckt legte Nils sich auf die Seite in das harte unebene, moosige Gras, stützte sich mit dem angewinkelten Arm ab und zupfte mit seiner schlanken Hand die einzelnen Grashalme heraus, wie unzählige vor ihm.
„Du wirst sicher mal die beste Mutter, die ein Kind sich wünschen kann!“ Ein melancholisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er sie vor seinem geistigen Auge in einer Schar Kinder vor sich sah.
Unter gesenkten Lidern betrachtete er sie in ihrem hautengen, schwarzen Badeanzug, der durch die Nässe an ihrem Körper klebte, wie eine zweite Haut. Immer schon war sie hübsch gewesen, kindlich hübsch, mit ihren verspielten Kleidern und den Korkenzieherlocken. Jetzt veränderte sie sich, ihre Brüste reiften heran, formten sich unter dem Badeanzug allzu deutlich und wohlgerundet ab, ihr Gesicht verlor den kindlichen Ausdruck, ihr Flachshaar glich einer vollen, unbezähmbaren Pferdemähne. Die einzigartigen violettblauen Veilchenaugen aber, veränderten ihren mitfühlenden, weichen Ausdruck nicht.
„Ich werde jetzt nach Hause gehen!“ Wehrlos dagegen merkte er, wie sein Herz unnatürlich anfing zu rasen, wenn er Lena betrachtete. Das wollte er nicht! So unschuldig, wie ihre Beziehung war, wollte er sie weiterführen. Lena war noch so jung, so unschuldig und so liebevoll! Wenn sie merken würde, dass etwas anderes zwischen ihnen wuchs, von dem er selbst keine Ahnung hatte, hätte er Angst sie zu verlieren
„Mareike wird mich vermissen! Ich sollte wieder zurückgehen!“ Leichtfüßig sprang Lena geschwind auf ihre Fußsohlen, wartete, bis Nils sich erhoben hatte und das Gras und den lehmigen Dreck von seinen Kleidern wischte.
„Ich spring‘ über den Zaun, so bin ich auch reingekommen. Dabei hatte ich nichts, außer den Sachen, die ich anhabe. Tschüss, Lena, .... danke!“ Behände kletterte er über den silbernen Maschendrahtzaun und sprang von oben auf den harten, im Sonnenlicht flimmernden Asphalt auf der anderen Seite. Wie eine Katze landete er mühelos auf allen Vieren.
„Tschüss, Nils!“ Traurig winkte sie ihm hinterher, ihr Herz war schwer und voller Sorge um ihn, wenn sie daran dachte, dass er wieder nach Hause musste.
Anmutig lief sie über die weite Rasenfläche, ihre Arme vor der Brust verschränkt. An ihren Fußsohlen spürten sie die kleinen Steinchen, die Unebenheiten des Bodens, die lehmige Erde zwischen den Grashalmen, die so fest war, dass kein grüner Halm mehr hindurch kommen konnte. Heiß brannte die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Eine leichte Brise nur wehte vom Meer her, über die dem Wind normalerweise schutzlos ausgelieferte, freie Fläche. Heute sehnte man den frischen Wind herbei, der sonst immer über das Land streifte.
Einen großen Bogen machte Lena um den Platz ihres Bruders und doch sah sie ihn auf einem
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