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Engel der Kindheit

Engel der Kindheit

Titel: Engel der Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Skyla Hegelund
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nicht mehr, er hatte es aufgegeben. Entweder sein Vater kam ohne Schläge an ihm vorbei oder er ließ es über sich ergehen. Einzig der Schuppen war sein Zufluchtsort geblieben, wenn die Schmerzen zu unerträglich wurden, wenn er die Möglichkeit zur Flucht hatte.
    Eiskalt blickten Nils Augen ihm entgegen, sahen ein körperliches Wrack, aufgedunsen vom Alkohol. Aufgeschwemmte, rotgeäderte Wangen, rotunterlaufene kleine Augen, einen fetten Bauch, tranige, ungewaschene lichte Haare und dicke, unbewegliche Finger an der breiten Hand. Eine Ausdünstung entströmte seinem Körper, nach Dreck, Schweiß und billigem Alkohol.
    Irgendwann würde er sich zu Grunde saufen! Irgendwann würde er keine Kraft mehr in seinen brutalen Händen haben.
    „Ach, da ist ja mein verweichlichter Sohn! Wann wirst du endlich zum Mann? Du jämmerlicher Waschlappen, du!“ Schleppend trat er an den groben Holztisch, seine Hände stützten sich ab, mühevoll nahm er auf dem breiten Stuhl Platz. Immer die gleichen Anschuldigungen auf den wulstigen Lippen.
    „Ich werde dann zum Mann, wenn du mich erwachsen werden lässt! Die Kindheit hast du mir genommen, es ist nur ein kleiner Schritt, bis du mich dort hast, wo du mich haben willst!“ Regungslos, beinahe maskenhaft, nur in seinen Augen loderte Hass, erhob Nils sich, nahm sein Pausenbrot vom Teller, steckte es in eine alte Papiertüte und schritt aufrecht aus der Küche. Hochaufgewachsen wie er war, streiften seine wirren, langen Haare das niedere Türfutter.
    Oben, in seinem Zimmer, kleidete er sich aus, schlang ein Handtuch um seine schmalen Hüften und betrat das ärmliche Badezimmer. Mühelos schwang er sich über den Rand der alten, freistehenden Zinkbadewanne, nahm die schwere Duschbrause in die Hand und duschte sich mit dem eiskalten Wasser ab, das langsam plätschernd aus ihr herauslief. Hastig seifte er sich ein, wusch seine Haare und brauste sich mit dem erfrischenden Wasser ab. Nachdem er das Wasser abgestellt hatte, wickelte er das Handtuch um sich und lief zu seinem Zimmer. Nirgendwo sah er in einen Spiegel, er wollte seinen geschundenen, vernarbten Rücken, seine verknorpelten Rippen, das krumme Schlüsselbein und die schiefe Nase nicht sehen.
    Eilig zog er eine löchrige, ausgefranste Jeans und ein weites, ausgebleichtes T-Shirt an, kämmte sich mit seinen gespreizten Fingern die nassen Haare und verließ das Haus, seine Schultasche über der Schulter.
    Philipp und er besuchten die achte Klasse des Gymnasiums, Lena war zwei Klassen unter ihnen. Nils Grundschullehrerin hatte für das Recht gekämpft, Nils anhand seiner guten Schulleistungen auf dem örtlichen Gymnasium anzumelden. Ohne Wissen ihres Mannes hatte Frau Keller ihren Sohn dort angemeldet.
    „Hi, Nils!“ Schlurfend betrat Philipp kurze Zeit nach ihm den großen, von schattenspendenden Bäumen umrandeten Schulhof. In seinen Händen hielt er sein neues Handy, auf dem er gerade einen neuen Klingelton installiert hatte. Da Nils sich nicht dafür interessieren würde, steckte er es in seine Hosentasche. Bis Nils sich jemals ein Handy würde leisten können, würden bestimmt noch hundert Jahre vergehen.
    „Hi, Philipp!“
    „Ging mal wieder laut zu bei euch, gestern Abend!“
    „Ja!“
    Mehr redeten die Freunde nicht darüber. Ungeduldig suchten Nils Augen Lena, die mit ihren Freundinnen über den Schulhof schritt. Die anderen Mädchen lachten, Lenas Gesicht war verschlossen, melancholisch. Nils wusste, dass sie an ihn dachte, er brachte sie um ihre Unbeschwertheit, die sie in ihrem Wesen gehabt hatte, ehe sie zu ihm gekommen war.
    „Gehst du heute wieder in die Werft?“ Lüstern verfolgten Philipps braune Augen ein Mädchen aus ihrer Parallelklasse. Umwerfend schulterlanges, rabenschwarzes Haar hatte sie, erregend wiegten ihre Hüften bei jedem Schritt. Unter dem kurzen Minirock sah er ihre festen, schlanken Schenkel und stellte sich vor, was sich sonst noch darunter verbarg. Altersgerecht wuchs in ihm der Wunsch, sie näher kennen zu lernen. Ein einziges Mal hatte er mit ihr vor der Klassenzimmertür geredet. Wenn nur Nils mal dazu zu bewegen wäre, nachmittags etwas anderes zu unternehmen, als zur Werft zu gehen!
    „Ja!“ Kurz und knapp kamen stets seine Äußerungen über seine Lippen. Soweit hatte sein Vater ihn gebracht, dass er nicht mehr in der Lage war, an den Unternehmungen anderer Jugendlicher teilzunehmen. Am liebsten war er alleine, hing seinen Gedanken nach und sehnte sich nach Lena, die der einzige

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