Engel der Kindheit
Löffel die Wundhöhle aus und entdeckte einen weiteren Splitter, der sich zwischen den Gedärmen der Katze befand. An Metallsplittern hatte sie sich schwer verletzt, die durch ihre klaffende Wunde in das Fleisch gedrungen waren. Millimeterweise suchte er mit einer Vergrößerungslupe die Wunde ab. Desinfizierte das Wundgebiet und überreichte Lena die Nadel und den Faden. Geübt huschte ihre flinke Hand von Wundrand zu Wundrand, verknotete den Faden, um erneut in das Fleisch einzustechen.
„Sehr gut! Du kannst sie wieder in den Käfig tragen!“
Vorsichtig umfasste Lena das schlafende Tier und legte sie behutsam auf den Boden des Käfigs. Jede halbe Stunde würde sie nach ihr sehen müssen.
Liebevoll blickte Lena durch die vollen Ställe, sah nach, ob alle Tiere wohlauf waren und half ihrem Vater beim Saubermachen.
„Lena!“ Lange hatte er überlegt, was er seiner Tochter sagen sollte. „Es wird ein anderer junger Mann kommen, dem du dein Herz schenken kannst! Ich mag Nils und er hat das einzig Richtige gemacht! Viel früher hätte er von zu Hause getrennt werden müssen! Damals schon, als Herr Keller angefangen hat, auf seinen Jungen einzuschlagen! Was habe ich nicht alles versucht, aber alles ohne Erfolg! Die Frau vom Jugendamt hat sich mit den schönen Reden der Kellers zufriedengegeben, ohne zu sehen, wie sehr der Junge gelitten hat. Die Polizei wollte oder durfte nicht handeln und Frau Keller hielt bedingungslos zu ihrem Mann! Mehr konnten wir als Nachbarn nicht für den Jungen tun! Außer du natürlich! Deine Mutter hat mir gesagt, dass du die Nächte mit ihm im Schuppen verbracht hast, stimmt das?“ Bewunderung lag in dem Blick, den Georg Johle seiner Tochter zuwarf.
„Ja! Immer, wenn ich das Geschrei seines Vaters hörte, lief ich zu Nils, tröstete ihn, verband ihn und nahm etwas zum Essen mit! Wir wurden unzertrennlich, Paps!“ Sehnsuchtsvoll verzog sich ihr Gesicht. „Wenn er Zeit hatte, ging er mit mir über die Felder oder er suchte mich, wenn er von der Werft kam. Erinnerst du dich an die unzertrennlichen Papageien? Genauso fühle ich mich jetzt! Ein Teil von mir fehlt! Ich werde es nur wiederbekommen, wenn ich bei Nils bin! Solange muss ich versuchen, ohne dieses Teil auszukommen! Ich werde keinen anderen Mann kennen lernen!“ Ernster, als er sie je gesehen hatte und reifer als viele Erwachsene, blickte seine Tochter ihn bei diesen Worten an.
„Ach Lena! Wer weiß, was in ein paar Jahren ist?“ Doch er sah seiner Tochter an, dass sie nicht daran glaubte, Nils je vergessen zu können.
Bis zum Urlaub verbrachte Lena ihre Tage bei den Tieren.
Die großen Ferien hatten begonnen und sie würde mit ihren Eltern drei Wochen lang nach Amrum fahren. Wie jedes Jahr hatten sie eine Ferienwohnung in einem wunderschönen, alten Reetdachhaus.
Auf Amrum würde Lena die Tage damit verbringen, über den endlosen feinen Sandstrand zu laufen und täglich zur Robbenaufzuchtstation zu gehen, um den kleinen Heulern zuzusehen, wie tollpatschig sie über den Sand robbten und wieder in ihr Becken eintauchten.
Nach der Ankunft der Fähre, war ihr erster Weg dorthin. Jeder in der Station kannte Lena seit Jahren. Seit sie ein kleines Kind gewesen war, hatte sie jeden Ferientag hier verbracht. Es war zur Selbstverständlichkeit geworden, dass sie mithelfen durfte, die Heuler zu wiegen, vermessen und füttern. Aus eigener Erfahrung wusste Lena, dass die scharfen Zähne der kleinen Robben böse Verletzungen geben konnten. Jeder ihrer Handgriffe war fest und sicher, aber genauso liebevoll wie alles an ihr.
„Hallo Lena!“ Krischan, ein blondgelockter junger Mann, so groß und kräftig wie ein Bär, mit lustigen Grübchen in den Wangen und Lachfältchen um die Augen, trat neben Lena und sah ihr zu, wie routiniert sie mit den Tieren umging. Er war auf Amrum zur Welt gekommen und leitete die Seehundstation mit seinem Vater zusammen.
Als kleiner Junge war er mit ihr über die Dünen gesprungen um Kröten und Frösche zu suchen, sie hatten Schlangen gefunden, die Lena neugierig bei ihren schlängelnden Bewegungen beobachtet hatte.
„Hallo Krischan!“ Traurig verschleiert waren ihre Augen, als sie ihren Blick zu ihm hob. So hatte er sie noch nie gesehen. Dabei sah sie einfach bezaubernd aus, mit ihrer offenen, wallenden Mähne, ihren dunkelblauen Augen, die in ihrem zarten, blassen Gesicht verloren wirkten und die feinen weichen, beinahe hilfsbedürftigen Züge, unterstrichen.
„Alles in Ordnung?“ Fragend
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