Engel der Kindheit
Hinter den dunkelgrauen Schranktüren verborgen sich genügend Geschirr, Gläser und Besteck. Die Küchenzeile war im Wohnraum integriert, von dessen großer Glasfront aus sie einen phantastischen Panoramablick über den gesamten Hafen hatten.
Im Wohnraum befand sich ein vom Wetter gebleichter, beinahe grauer Teakholztisch mit Stühlen, den sie auf der überdachten und offenen Terrasse platzieren konnten, die sich hinter der Glasfront erstreckte. Kleinere abgeschabte, einzel stehende lehmbraune Ledersessel und ein niederer Tisch stellten das Wohnzimmer dar. Es hatte elektrischen Strom und fließendes kaltes und warmes Wasser, allerdings keinen Telefonanschluss oder Internetverbindung. Aber darauf legten sie auch keinen Wert.
„Phantastisch, oder?“ Wie im Wunderland kam Nils sich vor, als er die große Glastür öffnete, die auf die breite Terrasse führte und atmete tief die süßliche und doch salzige Luft ein.
Neben ihm trat Sven ins Freie. Die grauen Wolken hatten sich verzogen, die letzten Strahlen der untergehenden Sonne glitzerten in allen Regenbogenfarben über das spiegelnde Wasser, brachen sich darin und tanzten wie geschliffene Diamanten auf der Wasseroberfläche.
8. Kapitel
Schweißgebadet erwachte Lena nach einer Nacht, in der sie sich ständig herumgewälzt und von einer auf die andere Seite gedreht hatte. Ihre Gedanken konnten keinen Schlaf finden, sie kreisten um Nils, der am Tag zuvor auf das Segelschiff gegangen war, und darum, ob sie ihn wohl je wiedersehen würde.
Gerädert betrat sie die Dusche, stellte den harten, heißen Wasserstrahl an und verharrte bewegungslos darunter. Geschmeidig legte sich ihr langes Haar um ihren schlanken Körper. Langsam drehte sie sich dem Strahl entgegen und ließ das Wasser über ihr Gesicht rinnen, das sich mit ihren Tränen vermischte.
„Mensch, beeil dich! Andere wollen auch noch ins Bad!“ Wütend hämmerte Philipp gegen die verschlossene Badtür.
Unter Zwang beeilte Lena sich fertig zu werden, trocknete sich ab und band den weichflauschigen Froteebademantel um ihren erwärmten Körper.
„Wird ja auch langsam Zeit!“ Philipp ließ ihr kaum die Zeit auf den Flur zu treten, mit der Hand nahm er sie an der Schulter und schob sie grob aus dem Türrahmen.
„Flegel!“ Über ihren ungehobelten Bruder schüttelte Lena den Kopf, strich sich die nassen Haarsträhnen aus der Stirn und zog sich in ihrem Zimmer an.
Am Frühstückstisch saßen ihre Eltern, jeder von ihnen einen Teil der Zeitung in der Hand und blickten Lena abwartend entgegen.
„Wie fühlst du dich?“ Aufmerksam musterte Sonja das Gesicht ihre Tochter.
„Es geht so! Ich vermisse ihn, aber ich werde versuchen, mein Leben so weiterzuleben, wie bisher!“ Traurigkeit lag über dem schönen Veilchenblau ihrer Augen. Einen Schluck Kaffee und kalte Milch goss sie sich in eine Tasse.
„Kommst du nachher mit zu den Tieren? Ich denke, ich muss die Katze noch einmal operieren. Ihre Wunde eitert so sehr, es kann nicht bis morgen warten!“ Ganz genau wusste Lenas Vater, dass nur die Tiere seine Tochter auf andere Gedanken bringen würden. Öfters assistierte sie ihm bei Operationen, wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatte.
„Ja, gerne!“ Schnell aß Lena ein frisches, knackiges Brötchen, trank ihre Tasse leer und zog sich die weiße Hose und die weiße Bluse an, die sie trug, wenn sie in der Praxis ihres Vaters zu tun hatte. Um ihr langes Haar wickelte sie ein Gummiband. Bauschig fiel ihr der Pferdeschwanz über den Rücken, bis zum Beginn ihrer schmalen Taille.
Rasch ging sie zu dem Käfig, indem die weißbraun gescheckte Katze auf dem Boden lag, alle Viere von sich gestreckt. Mit sicherem Griff umfasste Lena den Körper der Katze und holte sie aus ihrem Käfig. Apathisch lag sie in ihren Armen, ihr Körper war fieberheiß, ihr Mund stand offen und ihre Zunge schleckte nach Wasser. Beruhigend sprach Lena auf sie ein und trug sie auf den mit sterilen Tüchern abgedeckten Operationstisch.
Gründlich wusch und desinfizierte sie sich die Hände, bevor sie in die sterilen Handschuhe schlüpfte. Währenddessen hatte ihr Vater die Katze betäubt und alles, außer dem Operationsfeld, mit grünen, sterilen Tüchern abgedeckt.
Sicher führte seine Hand das scharfe Skalpell und öffnete den Schnitt vom Vortag. Stinkender Eiter, quittengelb und schleimig schoss aus der Wunde heraus. In einer Nierenschale fing Lena den Eiter auf, ihr Vater säuberte die Wunde, kratzte mit einem scharfen
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