Engel der Kindheit
gewagt, was keiner vor ihm jemals gewagt hatte und er hat Recht gehabt! Ich habe es gewusst, nachdem er es mir gezeigt hat, habe ich es gewusst!“ Verzweifelt blickte er seiner Tochter in die Augen. Wie erstarrt standen seine Arbeiter, unfähig weiterzuarbeiten, da sie sich noch genau daran erinnern konnten, wie Nils gegen Samuel Rodney gekämpft hatte, um die Masten zu kürzen.
Ohne zu überlegen war Sven zu Nils gerannt, so schonend wie möglich wollte er es ihm beibringen, er sollte es nicht durch das sensationslüsterne Geschrei erfahren.
„Nils? Nils, bist du unter Deck?“ Rufend stand Sven vor der geöffneten Luke, die in den unteren Teil des Schiffes führte.
„Sven?“ Fragend streckte Nils den Kopf heraus, seine Haare waren voller Sägespäne und Staub.
„Komm raus, ich muss dir etwas sagen!“
Augenblicklich sah Nils Svens Augen an, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste.
Schwungvoll schwang Nils sich an dem Türrahmen hebend über die Treppe auf die Schiffsplanken.
„Was ist?“ Abwartend blickte er den Freund an.
„Die `Charlotte´ ist gekentert! Wenn es stimmt, was erzählt wird, konnte die Küstenwache sie nicht mehr retten, sie hatten keine Schwimmwesten an und wurden von den Haien in Stücke gerissen.“ Mitfühlend sah Sven das erstarrte Gesicht seines Freundes. Betonhart hatte er die Zähne zusammengebissen, seine Kieferknochen traten unter seiner angespannten Haut furchteinflößend hervor.
Stumm setzte er sich in Bewegung, mit festen Schritten lief er zu der Reling, schwang sich darüber, ließ seinen Freund einfach stehen und ging geradewegs auf das Büro von Samuel Rodney zu.
Sven, der versuchte seinen Arm zu ergreifen, wurde von ihm nur mühelos abgeschüttelt.
Ohne anzuklopfen öffnete er die mattierte Glastür in dem Flachdachgebäude, die zu dem Büro seines Arbeitgebers führte.
„Ich habe es Ihnen gesagt! Sie sind Schuld am Tod zweier unschuldiger Menschen!“ Stählern durchbohrte Nils Blick Samuel Rodney, der sich blitzschnell hinter seinem Schreibtisch erhob und Nils entgegentrat.
Abwartend saß Marie-Luise, die Beine übereinandergeschlagen, in dem Besucherstuhl, ihre rechte Hand feilte die Nägel ihrer linken.
„Verschwinde! Bevor ich dich entfernen lasse! Du hast mir gar nichts zu sagen! Ich bin dein Boss und wenn dir das nicht passt, kannst du gehen! Es war ein Unfall! Was kann ich dafür, wenn sie nicht segeln können?“ Furchteinflößend baute Samuel Rodney sich vor Nils auf, der ihn ohne Angst betrachtet.
„Sie wissen, dass es nicht am Können gelegen hat, sondern daran, dass die Masten der `Charlotte´ zu hoch für den schmalen, flachen Rumpf waren! Diese Seelen werden schwer auf Ihrem Gewissen lasten! Nur wegen Ihrer Ignoranz und Ihrer Eitelkeit sind zwei Menschen zu Tode gekommen!“ Furchtlos blickte Nils dem kräftigeren Mann entgegen, der unter seinen Worten leicht zusammengezuckt war.
„Raus hier, augenblicklich! Das brauche ich mir von dir nicht bieten zu lassen!“ Donnernd schwoll seine Stimme an, hallte dröhnend durch das kleine Büro.
„Sie können mich rausschmeißen, aber Ihre Schuld wird bleiben!“ Ohne ihm weitere Beachtung zu schenken, drehte Nils sich um, öffnete die Glastür und zog sie hinter sich ins Schloss. Er hatte das gesagt, was er sagen wollte. Samuel Rodney sollte wissen, dass nur er für den Unfall verantwortlich war.
„Mensch, Nils, was hast du dem Boss gesagt, der schmeißt dich irgendwann raus und wir stehen auf der Straße!“ Jedes Wort war zu hören gewesen, Sven hatte die laute Diskussion im Büro vor der Eingangstüre verfolgt.
„Es ist mir egal! Er hat zwei Menschenleben auf dem Gewissen und er soll wissen, dass ich ihn daran erinnern werde! So geht man nicht mit Leben um!“ Wutentbrannt jagte Nils über das lange Gelände, bis er die Fabrikhalle erreicht hatte, in der sich damals die Diskussion abgespielt hatte.
Sofort trat James ihm entgegen, als Nils die Türe aufriss.
„Nils, ich wollte dich aufsuchen! Ich weiß, dass ich damals einen Fehler begangen habe und dir nicht geholfen habe. Es tut mir leid!“ Geknickt sah James zu Boden. Nie würde er es sich verzeihen können, dass Feigheit ihn davon abgehalten hatte, Nils in seiner Meinung zu unterstützen, und dass nun zwei Menschen zu Tode gekommen waren.
Abrupt kam Nils zum Stehen. Eigentlich hatte er James, ebenso wie Samuel Rodney, des bewussten Vertuschen einer Fehlkonstruktion beschuldigen wollen, aber er sah die Selbstvorwürfe und das
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