Engel der Kindheit
herfallen!“
Ebenfalls eine Flasche Bier nahm Sven sich aus dem Kühlschrank, öffnete sie mit dem Flaschenöffner, der auf der Arbeitsplatte lag, setzte die Flasche an und spürte, wie kühl die Flüssigkeit durch seine ausgedörrte Kehle rann.
„Tut das gut!“ Gelöst grinste Sven Nils mit einem Lächeln an, das niemals zuvor sein Gesicht erhellt hatte.
„Gute Nacht, Alter! Ich freu’ mich für dich!“ Anerkennend klopfte Nils Sven auf die Schulter.
Seit langer Zeit unterhielten sie sich nur noch in Englisch miteinander. Die Sprache war in sie übergegangen, wie ihre Muttersprache.
Sehnsuchtsvoll lag Nils auf seinem Bett, zog den Schuhkarton hervor, in dem er Lenas duftende Briefe und die mitgeschickten, gepressten Veilchen sammelte. Zu jedem zartvioletten Veilchen legte sie ihm ein herzförmiges gepresstes Veilchenblatt dazu. Alles duftete verführerisch nach ihrem frischen, ein wenig süßlichen Parfüm, das ihm stets das Gefühl gab, mit ihr in einer grünen Frühlingswiese zu liegen. Bilder schickte sie ihm mit, die sie in ihrem Garten zeigte oder im Urlaub auf Amrum, von dem sie ihm geschrieben hatte. Nur am Rande hatte sie ihm von Krischan erzählt, der mit seinem Vater zusammen die Seehundstation leitete und den sie seit ihrer Kindheit kannte. Ein tiefer Schmerz hatte ihn ergriffen, wenn er sie sich neben einem Anderen vorstellte, der sie sehen, mit ihr sprechen und lachen oder sie sogar berühren konnte. Wenn nur die Zeit seines Studiums schneller vorbeigehen würde, er sehnte sich so nach ihren Zärtlichkeiten! Mit den Briefen in seiner Hand und dem Veilchen an seiner Wange schlief er ein, träumte wie jede Nacht von ihrem wehenden Haar, ihrer glockenhellen Stimme, die ihn zu sich rief, die ihn neckte, bis er sie erreichte und sie an sich ziehen konnte.
Freudestrahlend erschien Alison am nächsten Nachmittag in der Werft, setzte sich an ihren Platz auf der Mauer und warf Sven verführerische Blicke zu, die er versuchte zu ignorieren.
„Alison, hör auf mich zu reizen, wenn dich jemand sieht!“ Nachdem sie mit der Zungenspitze über ihre schöngeschwungenen Lippen gefahren war, kam er unter dem Schiffsrumpf hervor und sah sie tadelnd an. Abrupt sprang sie auf und küsste ihn auf die Lippen. Vollkommen überrumpelt drehte er sich um und sah in die lachenden Augen ihres Vaters.
„Ich habe es ihnen beim Mittagessen gesagt! Mein Vater ist nicht gerade aus allen Wolken gefallen, er hatte seit langem den Verdacht und er findet, du wärst ein netter Kerl, was sagst du jetzt?“ Übermütig funkelten ihre kornblumenblauen Augen in dem ovalen Gesicht. Alles an ihr erschien ihm fröhlich und ausgelassen. Am liebsten würde sie ihn hier, vor allen, leidenschaftlich küssen, aber sie wusste, dass Sven das nie zulassen würde.
„Du bist vollkommen verrückt, weißt du das?“ Perplex konnte Sven nur den Kopf schütteln, er hatte gedacht, es würde sich ewig hinziehen, bis sie es ihren Eltern gestand, aber anscheinend hatte sie es eilig, in seinen Armen zu liegen.
„Nach dir, ja! Beeil dich mit arbeiten, ich möchte einen Kuss von dir, den ich mir holen werde, wenn ich heute Abend zu dir komme!“ Über seinen überraschten Gesichtsausdruck lachte sie, sprachlos sah er sie an.
„Sie sind gekentert, sie sind gekentert! Die `Charlotte´ ist untergegangen, sie sind beide tot!“ Aufgeregt rannte ein Arbeiter durch die Hallen und verbreitete posaunend die Neuigkeiten, die er soeben über Funk erfahren hatte.
„Was sagst du da?“ Hart packte James den Arbeiter an der Latzhose, bevor dieser sich umdrehen konnte, um aus der Halle zu rennen und seine Nachrichten weiter zu verbreiten.
„Die `Charlotte´ ist gekentert! Ich habe den Funkspruch abgehört! Die Küstenpolizei konnte sie nicht mehr retten, sie sind vor dem Great Barriereriff gekentert, hatten keine Schwimmwesten an und die Haie haben sie zerfleischt!“
Sensationslüstern wollte er weiter, bevor sich die Neuigkeit anders verbreiten würde.
„Oh mein Gott!“ Zitternd fuhr James sich durch die grauen, kurzen Haare. Wenn er damals dem jungen Nils Keller geholfen hätte, vielleicht würden die beiden Menschen noch leben! Kraftlos sank er auf der Treppe nieder, die zu seinem Büro führte. Sofort eilte Alison zu ihrem Vater, legte den Arm um seine Schulter und streichelte seinen linken Arm. Das Gesicht hatte er in den Händen verborgen.
„Ich bin mit schuld! Wenn ich damals nicht so feige gewesen wäre! Aber nur der junge Bursche hat es
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