Engel Der Nacht
Das hörte sich irgendwie seltsam an, also versuchte ich es noch einmal. »Es wäre mir auch egal, wenn du es überhaupt nicht hättest.« Dann versuchte ich es ein drittes Mal. »Dein Muttermal ist mir egal. Punkt.«
»Noch irgendwelche Fragen?«, fragte er. »Bemerkungen?«
»Nein.«
»Dann sehen wir uns in Bio.«
Ich wollte gerade sagen, dass er mich sowieso nie wiedersehen würde, doch dann fiel mir ein, dass ich mir lieber nicht zwei Mal am selben Tag widersprechen sollte.
Später in der Nacht riss mich ein Knacken aus dem Schlaf. Das Gesicht noch im Kissen vergraben, hielt ich ganz still, alle Sinne hellwach. Meine Mom arbeitete mindestens einmal im Monat auswärts, daher war ich daran gewöhnt, alleine zu schlafen, und es war Monate her, seit ich mir eingebildet
hatte, Schritte durch den Flur zu meinem Schlafzimmer schleichen zu hören. Die Wahrheit war, dass ich mich niemals ganz allein gelassen fühlte. Direkt nachdem mein Vater in Portland erschossen worden war, als er meiner Mutter ein Geburtstagsgeschenk kaufen wollte, war eine seltsame Präsenz in mein Leben getreten. Als würde jemand mein Leben umkreisen, mich aus der Entfernung beobachten. Zuerst hatte dieses Phantom mir Angst eingejagt, doch als sich nichts Schlechtes daraus ergab, hatte meine Angst ihren Stachel verloren. Ich fing an, mich zu fragen, ob es nicht einen kosmischen Grund dafür gab, dass ich so fühlte. Vielleicht war der Geist meines Vaters ganz in der Nähe. Normalerweise beruhigte mich dieser Gedanke, aber heute Nacht war es anders. Die Präsenz fühlte sich an wie Eis auf der Haut.
Als ich vorsichtig den Kopf etwas drehte, sah ich einen schattenhaften Umriss über meinen Fußboden huschen. Ich fuhr herum und sah zum Fenster. Das schleierartige Mondlicht war die einzige Lichtquelle im Raum, aber da war nichts, das einen Schatten hätte werfen können. Ich drückte mein Kissen an mich und sagte mir, dass sich wohl eine Wolke vor den Mond geschoben haben musste. Oder ein Stück Müll war vom Wind aufgewirbelt worden. Dennoch dauerte es mehrere Minuten, bis mein Herzschlag sich wieder beruhigt hatte.
Als ich den Mut gefunden hatte, das Bett zu verlassen, lag das Grundstück unter meinem Fenster still und ruhig da. Das einzige Geräusch stammte von den Ästen der Bäume, die am Haus kratzten, und von meinem Herzen, das unter meiner Haut trommelte.
DREI
C oach McConaughy stand an der Tafel und schwafelte eintönig über irgendetwas, aber meine Gedanken waren weit entfernt von den komplexen Fragen der Wissenschaft.
Ich war damit beschäftigt, Gründe auszuformulieren, warum Patch und ich nicht mehr nebeneinandersitzen sollten und stellte auf der Rückseite eines alten Tests eine Liste zusammen. Sobald die Stunde vorüber war, würde ich Coach mit meinen Argumenten konfrontieren. Unkooperativ bei Aufgaben , schrieb ich. Zeigt wenig Interesse an Teamarbeit .
Doch es waren die Dinge, die nicht auf der Liste standen, die mich am meisten störten. Ich fand den Ort von Patchs Muttermal gruselig, und ich war zutiefst verunsichert durch den Vorfall an meinem Fenster in der Nacht zuvor. Zwar verdächtigte ich nicht direkt Patch, dass er mir nachspionierte, aber ich kam auch nicht über den seltsamen Zufall hinweg, dass ich nur ein paar Stunden, nachdem ich mich mit ihm getroffen hatte, das unbeirrbare Gefühl gehabt hatte, dass mich jemand durch mein Fenster beobachtete.
Bei dem Gedanken, dass Patch mir nachspionierte, griff ich in die Vordertasche meines Rucksacks, schüttelte zwei Eisentabletten aus einer Flasche und schluckte sie herunter. Sie steckten einen Augenblick in meiner Kehle fest, dann fanden sie den Weg nach unten.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Patch die Augenbrauen hochzog.
Ich überlegte kurz, ob ich ihm erklären sollte, dass ich unter
Anämie litt und ein paar Mal am Tag Eisentabletten nehmen musste, besonders, wenn ich im Stress war, aber dann besann ich mich eines Besseren. Ein Eisenmangel war nicht lebensbedrohlich … zumindest, solange ich regelmäßig meine Tabletten nahm. Zwar war ich nicht so paranoid, dass ich dachte, Patch wollte mir Schaden zufügen. Aber irgendwie fühlte ich mich durch die Tatsache, dass ich Medikamente brauchte, so verletzlich, dass ich es lieber für mich behalten wollte.
»Nora?«
Coach stand mit ausgestrecktem Arm vor der Klasse und wartete offensichtlich auf irgendetwas - meine Antwort. Langsam stieg mir die Röte ins Gesicht.
»Könnten Sie die Frage bitte
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