Engel Der Nacht
Opfer «, sagte ich spontan. Sofort fand ich den Titel unheimlich ironisch. Ich wollte nicht länger darüber nachdenken, fischte in meinen Taschen und schob einen kleinen Haufen Scheine und Münzen unter dem Fenster hindurch, in der Hoffnung, dass das reichte.
»Meeensch«, sagte die Kassiererin, wobei sie auf die Münzen starrte, die unter das Fenster rollten. Ich kannte sie von der Schule. Sie war in der Zwölften, und ich war mir ziemlich sicher, dass sie entweder Kaylie oder Kylie hieß. »Herzlichen Dank auch«, sagte sie. »Zum Glück stehen die Leute ja grade nicht Schlange oder so.«
Die Wartenden hinter mir verfluchten mich gemeinsam murmelnd.
»Ich hab mein Sparschwein geschlachtet«, sagte ich in einem schlecht gelungenen Versuch von Sarkasmus.
»Scheint so. Ist das alles?«, fragte sie und stieß einen langen Seufzer aus, während sie die Münzen in Häufchen sortiert nach 25-Cent, 10-Cent, 5-Cent und 1-Cent-Stücken stapelte.
»Klar.«
»Egal. Der Job hier ist eindeutig unterbezahlt.« Sie wischte das Geld in die Kasse und gab mir meine Eintrittskarte.
»Es gibt solche Dinger, die nennen sich Kreditkarten …«
Ich griff nach der Karte. »Hast du zufällig Vee Sky heute Abend hereinkommen sehen?«
»Bee wer?«
» Vee Sky. Sie ist aus der Zehnten. Sie war mit Elliot Saunders zusammen.«
Kaylies oder Kylies Augen wurden groß. »Sieht das hier etwa nach einem ruhigen Abend aus? Sieht es so aus, als könnte ich hier herumsitzen und mir jedes Gesicht merken, das vorbei läuft?«
»Auch egal«, hauchte ich und machte, dass ich weiterkam.
Coldwaters Kino hat zwei Säle, und die Eingangstüren sind jeweils von Getränkeständen flankiert. Sobald der Kartenentwerter meine Karte entzweigerissen hatte, trat ich durch die Tür zu Kino Nummer zwei und verschwand nach
innen, in die Dunkelheit. Der Film hatte schon angefangen.
Das Kino war fast voll, es gab nur noch ein paar einzelne Sitze. Ich ging den Gang hinunter und suchte nach Vee. Am Fuß des Gangs bog ich ab und ging vor der Leinwand entlang. Es war schwer, in der Dunkelheit Gesichter zu erkennen, trotzdem schien Vee ziemlich sicher nicht hier zu sein.
Ich verließ das Kino und ging in die Vorstellung nebenan. Hier war es nicht so voll. Ich ging hindurch, aber wieder konnte ich Vee nicht finden. Also setzte ich mich nach hinten und versuchte, mich zu beruhigen. Dieser ganze Abend erschien mir wie ein dunkles Märchen, aus dem ich nicht wieder hinausfand. Ein Märchen mit gefallenen Engeln, menschlichen Mischlingen und Menschenopfern. Vorsichtig strich ich mit dem Daumen über mein Muttermal. Ich wollte schon gar nicht über die Möglichkeit nachdenken, dass ich vielleicht ein Nachkomme eines der Nephilim war. Ich zog das Notfallhandy aus der Tasche und rief die entgangenen Anrufe ab. Keine.
Ich steckte gerade das Telefon zurück in die Tasche, als eine Tüte Popcorn neben mir auftauchte.
»Hungrig?«, fragte eine Stimme direkt hinter mir. Die Stimme war ruhig, klang aber nicht besonders fröhlich. Ich versuchte, meinen Atem unter Kontrolle zu behalten. »Steh auf und geh raus«, sagte Patch. »Ich bin gleich hinter dir.«
Ich bewegte mich nicht.
»Geh raus«, wiederholte er. »Wir müssen reden.«
»Darüber, dass du mich opfern musst, damit du einen menschlichen Körper bekommst?«, fragte ich leichthin, aber mit einem bleiernen Gefühl im Magen.
»Süß, wenn du das wirklich glaubst.«
»Ich glaube es tatsächlich.« Schon. Aber ein Gedanke tauchte immer wieder und wieder in meinem Kopf auf -
wenn Patch mich töten wollte, warum hatte er es dann nicht längst getan?
»Schscht!«, sagte der Kerl neben mir.
Patch sagte: »Entweder du gehst jetzt, oder ich trage dich hinaus.«
Ich schoss herum: »Wie bitte?«
»Schscht!«, zischte der Kerl neben mir wieder.
»Er ist schuld«, sagte ich zu meinem Nachbarn und zeigte auf Patch.
Der Kerl drehte sich nach hinten um. »Hör zu«, sagte er und sah mich wieder an. »Wenn du nicht still bist, dann rufe ich den Wachdienst.«
»Schön, tu das. Sag ihnen, sie sollen ihn mitnehmen«, antwortete ich, wobei ich wieder auf Patch zeigte. »Sag denen, er will mich umbringen.«
» Ich werde dich gleich umbringen«, fauchte die Freundin des Kerls und lehnte sich dabei vor, um mir das zu sagen.
»Wer will dich umbringen?«, fragte der Kerl. Er schaute wieder über die Schulter, sah aber ratlos aus.
»Da ist keiner«, erklärte mir die Freundin.
»Du lässt sie denken, sie könnten dich nicht
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