Engel Der Nacht
würde durchsichtig. »Aber wenn ich nicht gefallen wäre, hätte ich dich nicht kennen gelernt.«
Die widersprüchlichen Gefühle wogen so schwer in meiner Brust, dass ich dachte, sie würden mich ersticken. Ich schluckte meine Tränen herunter und fragte weiter: »Dabria hat gesagt, mein Muttermal bedeutet, dass ich mit Chauncey verwandt bin. Stimmt das?«
»Willst du wirklich, dass ich das beantworte?«
Ich wusste nicht, was ich wollte. Meine ganze Welt schien ein Witz zu sein, und ich war diejenige, die als Letzte die Pointe mitbekam. Ich war nicht Nora Grey, ein normales Mädchen, sondern ein Abkömmling von jemandem, der nicht einmal ein Mensch war. Und mein Herz war dabei, wegen eines anderen Nichtmenschen zu zerbrechen. Einem dunklen Engel. »Welche Seite meiner Familie?«, fragte ich schließlich.
»Die deines Vaters.«
»Wo ist Chauncey jetzt?« Wenn wir auch miteinander verwandt waren, gefiel mir doch die Idee, dass er weit weg war. Ganz weit weg. So weit, dass die Verbindung zwischen uns sich nicht so wirklich anfühlte.
Seine Stiefel berührten meine Turnschuhe. »Ich werde dich nicht töten, Nora. Ich töte keine Menschen, die mir wichtig sind. Und auf dieser Liste stehst du ganz oben.«
Mein Herz machte einen nervösen Sprung. Meine Hände
drückten gegen seinen Bauch, der so hart war, dass nicht einmal die Haut nachgab. Ich hielt ihn auf Abstand, obwohl das vollkommen unnütz war, da nicht einmal ein hoher, elektrischer Zaun dafür gesorgt hätte, dass ich mich vor ihm sicher fühlte.
»Du invadierst meine Privatsphäre«, sagte ich und zog mich langsam zurück.
Patch lächelte fast unsichtbar. »Invadierst? Das hier ist keine Prüfung zum Wortschatz, Nora.«
Ich schob mir ein paar Haarsträhnen hinter die Ohren und machte einen großen Schritt zur Seite um das Waschbecken herum. »Du engst mich ein. Ich brauche - Platz.« Was ich brauchte, waren Grenzen. Ich brauchte Willenskraft. Scheinbar bewies ich gerade einmal mehr, dass man mir nicht trauen konnte, wenn Patch dabei war. Ich hätte zur Tür rennen sollen, aber … ich tat es nicht. Stattdessen versuchte ich, mich davon zu überzeugen, dass ich blieb, weil ich Antworten brauchte, aber das war nur ein Teil der Wahrheit. Über den anderen Teil wollte ich nicht nachdenken. Die Gefühle. Der Teil, gegen den ich hoffnungslos ankämpfte.
»Verheimlichst du mir noch etwas?«, wollte ich wissen.
»Ich verheimliche dir vieles.«
Meine Eingeweide gingen auf Tauchgang. »Wie zum Beispiel?«
»Wie zum Beispiel, was ich gerade fühle, hier eingesperrt mit dir.«
Patch stützte sich mit einer Hand gegen den Spiegel hinter mir und lehnte sich in meine Richtung. »Du hast keine Ahnung, was du mit mir machst.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist keine gute Idee. Es ist nicht richtig.«
»Es gibt viele Arten von richtig«, murmelte er. »Auf der Skala sind wir immer noch im sicheren Bereich.«
Ich war mir ziemlich sicher, dass die Hälfte meines Hirns, in der der Selbsterhaltungstrieb untergebracht war, gerade Renn um dein Leben! s chrie. Unglücklicherweise rauschte das Blut in meinen Ohren, und ich konnte schlecht hören. Offensichtlich konnte ich außerdem schlecht denken.
»Eindeutig richtig. Gewöhnlich richtig«, fuhr Patch fort. »Meistens richtig. Vielleicht richtig.«
»Vielleicht nicht gerade jetzt.«
Ich holte scharf Luft. In meinem Augenwinkel konnte ich einen Feueralarmhebel sehen, der an der Wand hing. Er war drei, vielleicht fünf Meter entfernt. Wenn ich schnell genug war, dann konnte ich den Raum durchqueren und ihn in Gang setzen, bevor Patch mich aufhielt. Der Wachdienst würde kommen. Ich wäre sicher. Und das wollte ich doch … oder?
»Keine gute Idee«, sagte Patch mit einem leisen Kopfschütteln.
Ich rannte dennoch los. Meine Finger umschlossen den Hebel, und ich zog, um den Alarm zu aktivieren. Aber der Hebel rührte sich nicht. Sosehr ich es auch versuchte, ich konnte ihn nicht dazu bringen, sich zu bewegen. Dann bemerkte ich Patchs bekannte Gegenwart in meinem Kopf, und ich wusste, er spielte mit meinem Verstand.
Ich fuhr herum und sah ihn an. »Raus aus meinem Kopf.« Ich stürmte zurück und schlug hart gegen seine Brust. Patch trat einen Schritt zurück, um das Gleichgewicht wiederzufinden.
»Wofür war das?«, fragte er.
»Für diesen ganzen Abend.« Dafür, dass er mich nach sich verrückt machte, obwohl ich wusste, dass er etwas Falsches tat. Er tat das Allerfalscheste überhaupt. Es war so falsch, dass
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