Engel Der Nacht
zeigte mit dem Finger auf mein Handgelenk. »Das bedeutet, dass du der weibliche Nachkomme eines Nephils bist. Und zwar nicht eines beliebigen Nephils, sondern von Chauncey Langeais, Patchs Vasallen.«
Ich sah auf meine Narbe, und einen Moment lang, in dem mein Herz aussetzte, glaubte ich ihr. Doch ich wusste, dass ich ihr nicht trauen konnte.
»Es gibt ein heiliges Buch, das Buch Enoch «, sagte sie. »Darin tötet ein gefallener Engel seinen Vasallen dadurch, dass er einen weiblichen Nachkommen des Vasallen opfert. Du glaubst nicht, dass Patch dich töten will? Was wünscht er sich denn am meisten? Wenn er dich geopfert hat, wird er ein Mensch. Dann hat er alles, was er will. Und er kommt nicht mit mir nach Hause.«
Sie zog ein langes Messer aus dem Holzblock auf der Anrichte. »Und deshalb muss ich dich loswerden. Es scheint, als ob auf die eine oder andere Weise meine Vorahnungen richtig waren. Der Tod erwartet dich.«
»Patch ist auf dem Rückweg«, sagte ich mit Angst in den Eingeweiden. »Willst du nicht erst mit ihm darüber sprechen?«
»Wir erledigen das ganz schnell. Ich bin ein Todesengel. Ich bringe Seelen ins Jenseits. Sobald ich fertig bin, trage ich deine Seele durch den Schleier. Du brauchst keine Angst zu haben.«
Ich wollte aufschreien, aber meine Stimme steckte irgendwo hinten in meiner Kehle fest. Langsam schob ich mich um die Anrichte herum, den Küchentisch zwischen uns. »Wenn du ein Engel bist, wo sind dann deine Flügel?«
»Keine Fragen mehr.« Ihre Stimme klang jetzt ungeduldig, und sie begann, den Abstand zwischen uns ernsthaft zu verringern.
»Wann hast du den Himmel verlassen?«, fragte ich, um Zeit zu schinden. »Du bist schon seit einigen Monaten hier, richtig? Glaubst du nicht, dass die anderen Engel inzwischen gemerkt haben, dass du weg bist?«
»Keinen Schritt weiter«, schnappte sie und hob dabei das Messer, das im Licht aufblitzte.
»Du wirst wegen Patch eine Menge Ärger bekommen«, sagte ich mit einer Stimme, die dummerweise viel mehr Panik ausdrückte, als ich gewollt hatte. »Warum trägst du ihm nicht nach, dass er dich benutzt, wie es ihm passt? Es überrascht mich, wieso du überhaupt willst, dass er seine Flügel zurückbekommt. Nach allem, was er dir angetan hat, bist du da nicht froh, dass er hierher verbannt wurde?«
»Er hat mich wegen eines wertlosen Menschenmädchens verlassen!«, fauchte sie, ihre Augen feurig blau.
»Er hat dich nicht verlassen, nicht wirklich. Er ist gefallen …«
»Er ist gefallen, weil er ein Mensch werden wollte wie sie! Er hatte mich - er hatte doch mich!« Sie gab ein höhnisches Lachen von sich, aber es konnte weder die Wut noch die Trauer verschleiern. »Zuerst war ich verletzt und wütend und habe alles in meiner Macht Stehende getan, um ihn zu vergessen. Dann, als die Erzengel herausgefunden hatten, dass er ernsthaft versuchte, ein Mensch zu werden, haben sie mich hierhergeschickt, um ihn umzustimmen. Ich habe mir geschworen, dass ich mich nicht noch einmal in ihn verlieben würde, aber was blieb mir schon anderes übrig?«
»Dabria …«, setzte ich sanft an.
»Es war ihm egal, dass dieses Mädchen aus dem Staub der Erde gemacht war! Ihr - ihr alle - seid egoistisch und schmuddelig! Eure Körper sind wild und undiszipliniert. In einem Augenblick seid ihr auf dem Höhepunkt der Freude, im nächsten am Boden zerstört. Das ist verabscheuenswert! Kein Engel kann so was wollen!« Sie schlug ihre Arme in einem wilden Bogen über ihr Gesicht und wischte sich die Tränen ab. »Sieh mich an! Ich habe mich kaum noch unter Kontrolle. Ich bin schon viel zu lange hier unten, mitten in diesem Menschendreck!«
Da drehte ich mich um und rannte aus der Küche, wobei ich einen Stuhl umwarf und ihn hinter mir vor Dabrias Füßen fallen ließ. Ich rannte den Flur entlang, wusste aber, dass er in eine Falle führte. Das Haus hatte zwei Ausgänge: die Vordertür, die Dabria vor mir erreichen konnte, wenn sie durchs Wohnzimmer abkürzte, und die Hintertür im Esszimmer, die sie verstellte.
Plötzlich bekam ich einen heftigen Stoß von hinten und fiel nach vorn. Ich rutschte den Flur entlang und kam auf dem Bauch liegend zum Stillstand. Hastig rollte ich herum.
Dabria schwebte einen halben Meter über mir - in der Luft -, ihre Haut und ihr Haar glänzten in blendendem Weiß, das Messer zeigte auf mich herab.
Ich dachte nicht weiter nach, sondern trat mit aller Kraft nach oben. Ich lehnte mich in den Tritt hinein, stützte mich auf das
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